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RADEBRECHT.
Eine Porträtserie über das Dazwischen.
von Paul-Ruben Mundthal
Es hat sich angefühlt wie eine Amputation. Linkes oder rechtes Bein – die Entscheidung lag immerhin bei ihr. Wenn Zeynep Dilara Taştekin (21) über ihre deutsch-türkische Herkunft spricht, verzieht sie das Gesicht, schaut ungläubig drein. Die ständigen Fragen nach ihrer Identität, ob sie sich nun deutsch oder türkisch oder ganz anders fühle, nerven sie. Sie möchte sich nicht für eine Seite entscheiden: „Ich bin einfach ich. Heimat ist für mich kein Land oder eine Nationalität. Dort, wo man sich wohl fühlt und akzeptiert wird, ist für mich die Heimat. Ich möchte weder Deutschland, noch der Türkei den Rücken zu kehren.“ Zeynep möchte beide Beine behalten. Dabei hat sie Glück, sie darf beide Pässe, den deutschen und den türkischen führen. Sie profitiert dabei von einer Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts, die vor gut einem Jahr in Kraft trat: Demnach kann jeder, der ab 1990 geboren ist, ausländische Eltern hat und seit der Geburt zwei Pässe besitzt, aber in Deutschland aufgewachsen ist, eine doppelte Staatsbürgerschaft halten. Ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass dies nicht überall der Fall ist: Länder wie Polen, Österreich, Dänemark verbieten die doppelte Staatsbürgerschaft. In einer Welt, die international vernetzt ist, Menschen über den gesamten Globus verteilt arbeiten, leben und lieben, muten solche Regelungen seltsam anachronistisch an. In Deutschland bestehen 13 Prozent aller Paare aus mindestens einem Partner, der keinen deutschen Pass hat.
In welch absurde Gemengelage die Frage nach Identität, vor allem aber nach dem „richtigen“ Pass führt, hat auch Sevinç Yusifova (22) erlebt. Sie lebt in Istanbul, ist in der Türkei geboren, zur Schule gegangen und studiert heute dort. Einen türkischen Pass hat sie nicht. Sie ist das Paradebeispiel eines Kindes aus einer internationalen Beziehung: Die Familie mütterlicherseits setzt sich zusammen aus bedeutenden aserbaidschanischen Künstlern. Ihre Mutter studierte Klavier in Moskau und lernte dort Sevinçs Vater kennen. Gemeinsam gehen sie Mitte der Achtziger nach Istanbul und wenig später wird Seveniç geboren. Obwohl sie in der Türkei geboren ist, hat sie nicht die türkische Staatsbürgerschaft. „Das schlimmste ist die Bürokratie“, sagt sie. Ständig muss sie ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern und dabei die Schikanen der türkischen Verwaltung ertragen. Formal ist es zwar möglich, die türkische Staatsangehörigkeit zu beantragen, doch die Liste der Bedingungen für eine Einbürgerung ist so lang, dass es selbst für Sevinç schwer ist diese zu erfüllen und das, obwohl sie hier geboren ist. „Und selbst wenn ich einen türkischen Pass bekäme: Ich studiere in der Türkei als ausländische Studentin, weil ich ja nicht als Türkin gelte. Würde ich jetzt den türkischen Pass bekommen, verliere ich meinen Studienplatz“, fügt sie an. Staatsbürgerrecht aus Absurdistan.
Seçkin Tercan verbindet ähnlich abstruse Erlebnisse mit seinem Pass. Der 37-jährige ist im türkischen Teil Zyperns geboren und Ende der 1990er-Jahre nach Istanbul gezogen. Einen türkischen Pass zu bekommen, ist für türkische Zyprioten problemlos möglich. „Aber immer wenn ich jetzt länger auf Zypern bleiben möchte, brauche ich ein Visum“, sagt er. Ein Visum, um in seiner Heimatstadt Nikosia zu leben.
Drei Geschichten von drei Menschen, die jeden Tag mit den Fragen konfrontiert sind: Woher kommst du? Wer bist du? Wozu möchtest du gehören? Sie alle begegnen sich in Istanbul – der Metropole, die selbst zerrissen und bunt auf zwei Kontinenten liegt. Radebrecht ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Fragen nach Identität und Differenz, eine Reise in das Dazwischen, aber auch eine Hommage an die temporäre Heimatstadt aller Protagonisten: Istanbul. Die Fotoserie begleitet insgesamt zwölf Menschen, die wie Sevinç, Zeynep und Seçkin auf der Suche sind nach einem Ort, der so etwas sein könnt wie: Zuhause. Ein Portrait über die Suche. Fotografien aus dem Dazwischen. Eine Geschichte über Menschen in Istanbul.
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