Seit den 1970er-Jahren hält Martin Parr uns einen fotografischen Spiegel vor – mit einigen der außergewöhnlichsten und eigenwilligsten Bilder unserer Zeit. Der neue Dokumentarfilm I Am Martin Parr macht ungefiltert und persönlich seine Projekte und Antriebe erfahrbar.
Ernsthaft, oft absurd, aber immer verspielt: Martin Parrs scharfsinnige, bisweilen bittere Bild-Kommentare zur Konsumgesellschaft provozieren seit jeher Debatten. Er zählt zu den umstrittensten Fotografen der Gegenwart. Seine Bilder sind oft unterhaltsam und humorvoll – und dennoch bleibt ein unangenehmes Gefühl: Zwischen stillem Lächeln und dem beunruhigenden Moment, sich selbst in diesem kompromisslosen Porträt der Konsumgesellschaft zu erkennen.
Im Film erleben ihn bei der Arbeit und dringen vor zu seiner ganz eigenen Sichtweise auf die Welt – ebenso wie zu einem Leben voller Missverständnisse. Interviews mit Wegbegleitern – von seiner Familie über Fotografen und Künstler bis hin zu Filmemachern, zeichnen ein dynamisches, intimes und facettenreiches Porträt.
Obwohl Parrs Werke heute weltweit ausgestellt werden, stieß seine frühe Fotografie auf heftige Kritik – etwa wegen angeblicher Herabwürdigung der Arbeiterklasse. Warum? Vielleicht, weil er schlicht sichtbar machte, was andere übersehen wollten. Seine provokanten Aufnahmen waren oft genau das: bewusst unbequem. Vielleicht war es genau das, was er bezweckte?
Warum diese knalligen Farben, die zuvor eher Werbung und Mode vorbehalten waren? Was geht im Innern dieses schrägen, obsessiv sammelnden Individuums vor? I Am Martin Parr bringt seine Bildsprache zum Leben – grell, bunt und gesättigt: Willkommen in der Welt von Parr.
Von Bristol, wo Parr lebt und seine Stiftung betreibt, bis zur britischen Küstenstadt New Brighton, wohin der Filmemacher Lee Shulman ihn 40 Jahre später begleitete, um seine berühmteste Serie The Last Resort neu aufzunehmen – I Am Martin Parr ist das Porträt eines Ausnahmefotografen, der die zeitgenössische Fotografie revolutionierte: mit einer Bildsprache, die politisch, humanistisch und zugleich zugänglich ist.
Lee Shulman zur Entstehung seines Films: „Als ich 2019 meine Ausstellung The House in Arles eröffnete, war ich verblüfft: Martin Parr, einer meiner fotografischen Helden, trat an mich heran, um meine Arbeit zu loben. Aus diesem Treffen entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit Magnum – initiiert durch Martin selbst, der uns Zugang zu seinem digitalen Archiv gewährte. Gemeinsam mit The Anonymous Project entstand daraus 2021 das Buch und Ausstellungsprojekt Déjà View, zunächst gezeigt in der Magnum-Galerie Paris, später auch in London.“ Seitdem verbindet Shulman und Parr ein echtes Vertrauensverhältnis. Nun, zu seinem 70. Geburtstag, öffnete Martin großzügig die Türen zu seinem Alltag für das intime Filmporträt.
WEinige Künstler verändern unsere Sicht auf die Welt. Für mich ist Martin Parr so jemand“, so Shulman. „Seine Sichtweise ist zu einer neuen Sprache in der Fotografie geworden. Er bleibt ein Rätsel, ein Außenseiter, rebellisch, unkonventionell. Aber sein Einfluss ist unbestreitbar. Niemand ist wie er. Seine Faszination für das Menschsein ist grenzenlos“. Weltpremiere hatte der Film im Oktober 2024 beim Filmfestival in Rom. Derzeit läuft er in zahlreichen Programmkinos in Groß Britannien. Wann er in Deutschland zu sehen sein wird, steht noch nicht fest.
Foto oben: Martin Parr in New Brighton, 2023 © Lee Shulman
- Martin Parr in New Brighton © Lee Shulman
- Martin Parr Collection. SPAIN. Benidorm. Autoportrait. 1997. Martin Parr: Magnum Photos
- GB. England. New Brighton. From ‚The Last Resort‘. 1983-85. Martin Parr: Magnum Photos
- GB. England. New Brighton. A couple in a cafe. 1985. Martin Parr: Magnum Photos
- ITALY. Venice. 2005. Martin Parr: Magnum Photos
- GB. England. New Brighton. From ‚The Last Resort‘. 1983-85.Martin Parr: Magnum Photos