Nach dem Tod Francos hat sich Spanien neu erfunden. Nicht zuletzt Musiker, Maler, Fotografen probten den Aufbruch in eine neue Zeit. Was als „Movida“ in die Geschichte eingegangen ist, ist termingerecht vier Jahrzehnte später eines der großen Themen der 25. Ausgabe des Festivals PHotoESPAÑA.
Ein wenig erinnert das Porträt an Alfred Dreyfus, legendäres Opfer einer antisemitischen Intrige zur Zeit der Dritten Republik. Aber natürlich ist es nicht Dreyfus, der da ins Leere blickt. Es ist eine Frau, genauer: Bolette Berg, die hier den Offizier gibt, im Studio inszeniert und festgehalten von ihrer Geschäftspartnerin und Lebensgefährtin Marie Høeg. Gemeinsam unterhielten sie um 1900 ein gutgehendes Atelier in Horten, später Oslo, fertigten die üblichen Bildnisse eines gesetzten Bürgertums, schufen Landschaften und Stadtansichten, die vor allem in Gestalt von Postkarten das erwachende Nationalgefühl einer jungen Nation bedienten – bekanntlich hatte sich Norwegen erst 1905 von Schweden gelöst.
Soweit die Fassade einer Ateliergemeinschaft, die nach Feierabend in eine gänzlich andere Richtung wies. Da nämlich schlüpften beide in alle möglichen Garderoben, probten vorzugsweise männlich konnotierte Rollen, erfreuten sich an einer facettenreichen Travestie, deren Bild gewordene Resultate erst unlängst im Nachlass entdeckt wurden und nun in Madrid erstmals ein internationales Publikum erreichten. Schon eine kleine Sensation, die nicht zuletzt an Cindy Sherman denken lässt – mit allerdings einem Vorsprung von nicht ganz hundert Jahren.
Die im Souterrain des Circulo de Bellas Artes gezeigten Arbeiten von Marie Høeg und Bolette Berg bildeten so etwas wie den zeitlichen Auftakt zu weiteren Positionen, die Fragen weiblicher Identität, die Rollenbilder und -klischees in den Mittelpunkt ihres künstlerischen Interesses rückten. Neben Fina Miralles und Marina Abramovic wäre vor allem Orlan zu erwähnen, multimedial interessierte Künstlerin mit Studio in Paris, als solche regelrecht Legende und in Madrid mit Arbeiten vertreten, die aus feministischer Perspektive Ikonen der Kunstgeschichte reinterpretierten. Courbets skandalträchtiger „Ursprung der Welt“ von 1886 etwa (heute im Musée d’Orsay) – hier nicht als kühn gesehener Frauenakt, sondern als Blick auf das männliche Geschlecht mit klar politischer Botschaft: Titel des auch in Rahmung und Format deutlich auf Courbet verweisenden Bildes mit trauriger Aktualität: „L’origine de la guerre“ („Der Ursprung des Krieges“).
Auch Duchamps „Akt eine Treppe hinabsteigend“ oder Picassos „Guernica“ hatte Orlan einer Neubewertung unterzogen: Appropriation Art mit unübersehbar sozialkritischem Unterton. Und ein weiteres Mal, nämlich im mittlerweile sanierten städtischen Kulturzentrum Fernan Goméz, stieß man – 50 Jahre nach dem Tod des Künstlers – auf den Namen Picasso. „Picasso en foto“ („Picasso im Foto“) lautete der Titel einer vom Museu Picasso de Barcelona kuratierten, vorzüglichen, material- und bilderreichen Schau, die über die weitgehend bekannten Porträts von Lucien Clergue und David Douglas Duncan hinaus Picassos Verhältnis diesmal weniger zu den Frauen als zu Galeristen und Verlegern, vor allem seinem langjährigen Sekretär Jaime Sabartés bildhaft zum Thema machte.
Monografische Ausstellungen im XXL-Format sind die Spezialität der prominent am Paseo de Recoletos gelegenen Fundación Mapfre. Diesmal im Fokus der 1922 in Brooklyn geborene, 2016 in Paris verstorbene Louis Stettner, dessen maßgeblich vom humanistischen Geist der New Yorker Photo League geprägtes Werk hier überhaupt zum ersten Mal eine großangelegte museale Würdigung erfuhr. Ein für das heutige, moderne Spanien bedeutendes Stück Kulturgeschichte markiert die wenige Jahre nach dem Tod General Francos (1975) einsetzende „Movida“ als temporeicher Aufbruch in allen möglichen Disziplinen, von der Musik über die Bildende Kunst bis hin zu Kino und Theater. Die Fotografie mit Namen wie Ouka Leele, Isabel Múñoz, Javier Vallhonrat oder Alberto García-Alix nicht zu vergessen. Gleich zwei Ausstellungen griffen das Thema auf: Eine exzellent recherchierte, facettenreiche Dokumentation in der Fundación Canal und eine dem Werk der fotografierenden Zeitzeugin Marivi Ibarrola gewidmete Hommage: Sie hatte insbesondere die Punk-, Funk- und Rock-Szene der frühen 80er Jahre mit der Kamera begleitet (Serrería Belga).
PHotoESPAÑA war und ist eigentlich immer beides: Rückblick und Ausblick, Auseinandersetzung mit dem fotografischen Erbe und ein Sondieren der kreativen Gegenwart, sprich einer Kunst, die sich mittlerweile als weitgehend digital gestütztes Medium präsentiert. Prominent hatten das Feld der Zeitgenossen diesmal Bleda y Rosa besetzt, ein in Spanien bekanntes Künstlerpaar, das sich seit den 90er Jahren schwerpunktmäßig der Erkundung historisch aufgeladener Orte widmet. Großbild (Horseman) und analoges Mittelformat (Mamiya) waren und sind ihr Handwerkszeug. Man kennt ihre Landschaften und detailverliebten Stadtansichten aus früheren Ausgaben des Festivals. Diesmal hatte sich das Künstlerpaar allerdings für eine raumgreifende Installation entschieden, mehr Kino als Ausstellung, dies nicht zuletzt, um die jeweiligen Serien in Gänze präsentieren zu können (Museo Ico).
Und was treibt den fotografierenden Nachwuchs um? Sicher ist der 2022 ins Leben gerufene Fundación ENAIRE Photography Prize alles andere als repräsentativ. Gleichzeitig durfte man staunen über eine reichlich homogene Bilderwelt, die Kälte und Glätte eigentlich aller Arbeiten der Endauswahl, ihre im Grunde Inhaltsleere, die digitaler Technik geschuldete, zum Dekorativen tendierende Makellosigkeit der durchweg edel gerahmten Großformate. Da wurde nicht selten die Grenze zum Kitsch überschritten, bei gleichzeitigem Fehlen jedweder Empathie, einer wie auch immer gearteten Mission. Zwar wartete das Siegerbild von Mariana Vargas durchaus mit einem Statement auf. Aber das brustamputierte Model mit trotzig geballter, in den Atelierhimmel gereckter Faust, umgeben von einer durchweg männlich besetzten Malklasse, war dann doch zu viel Verbeugung vor einem „woken“ Zeitgeist (Réal Jardin Botanico). Keine Frage: Die Fotografie heute ist eine andere als die vor 25 Jahren, als PHotoESPAÑA seinen Einstand gab. Nun wird man sehen, in welche Richtung sich das Festival unter dem Eindruck von Digitalisierung, Globalisierung und neuerdings KI entwickelt. Alberto Anaut, Gründer und nach wie vor Präsident des jährlichen Events jedenfalls zeigt sich „full of excitement for the future“. Für ihn kann Madrid in eine wie auch immer geartete nächste Runde gehen. Hans-Michael Koetzle
Festival bis 3. September. Der begleitende Guide (360 Seiten) kostet 15 Euro.
Text: Michael Koetzle