Erstmals seit 2019 besuchte ProfiFoto Chefredakteur Thomas Gerwers im Februar wieder die japanische Fotomesse CP+ in Yokohama. Auf dem 15-stündigen Rückflug reflektierte er seine Impressionen des aktuellen Status´ der Fotobranche.
Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten und von einem Punta de Vista aus der Distanz auf das Geschehen zu blicken. 10.000 Meter Reiseflughöhe waren die Perspektive, die ich auf dem Rückflug aus dem Mutterland der Fotoindustrie nutzte, um mir Gedanken über den Absturz des Kameramarkts in den letzten zehn Jahren und den steilen Anstieg der aktuellen Kamerapreise zu machen.
Bei Turbulenzen erfolgt die Aufforderung an Flugpassagiere, den Sicherheitsgurt zu schließen. Die Turbulenzen der letzten Jahre am Fotomarkt erfordern jedoch Flexibilität und
den Wechsel gewohnter Standpunkte, um kurz vor dem Absturz doch noch durchstarten zu können.
1 Prozent
Nur rund ein Prozent der Bevölkerung der Industrieländer sind nach Einschätzung von Marktforschern Hard-Core Kamerafans und bilden eine lukrative Nische. In Deutschland sind das 830.000 Foto-Aficionados, von denen statistisch gesehen im letzten Jahr rund ein Drittel eine hochwertige Kamera gekauft hat.
Zeitgleich zur erstmals seit 2019 wieder durchgeführten japanischen Fotomesse CP+ veröffentlichte die japanische Camera & Imaging Products Association (CIPA) folgende Zahlen zum globalen Fotomarkt 2022: weltweit wurden 8.011.598 Digitalkameras mit Wechselobjektiv verkauft, was mit +10,8 Prozent ein zweistelliges Wachstum darstellt. Von denen hatten 5.926.733 keinen Spiegel. Hinzu kamen 9.727.978 Wechselobjektive, was rund 1,6 verkauften Objektiven pro Kamera entspricht.
Zahlen für Deutschland liefert der Photoindustrie-Verband (PIV) in Kooperation mit der GfK und zeichnet ein ähnliches Bild. Auch hierzulande legten vor allem Vollformat-Systemkameras sowohl in der Stückzahl (+5%) als auch beim Umsatz (+9%) zu. Der Umsatz mit Objektiven verzeichnete sogar ein Plus von satten 21 Prozent.
20 Prozent
Dabei kosteten Fotoprodukte im Durchschnitt 20 Prozent mehr als im Vorjahr, Systemkameras verteuerten sich um 14 Prozent und Objektive um neun Prozent.
Der Durchschnittspreis lag bei Digitalkameras inklusive Action-Cams und Camcorder bei 616,78 Euro (2021: 514,50 Euro). Während die DSLRs, als einstige Königsklasse, mit einem Durchschnittspreis von 741,18 Euro rund vier Prozent unter dem Vorjahresniveau lagen
(2021: 774,77 Euro), kosteten Spiegellose im Schnitt stolze 1735,43 Euro (2021: 1516,95 Euro; +14%).
Das Segment mit dem stärksten Wachstum hat demnach den mit weitem Abstand höchsten Durchschnittspreis. Am Geld kann es also nicht liegen, wenn der Fotomarkt insgesamt seit rund zehn Jahren schrumpft!?
50 Prozent
Während die Fotoindustrie derzeit ihre Hoffnung auf die von ihr meist-umworbene Zielgruppe der Generation Y und der Millennials setzt, hat sich ausgerechnet deren Einkaufsverhalten in der Zeit der Coronakrise am stärksten verändert. So haben 27 Prozent der 16 bis 29-jährigen ihre Ausgaben auf das Nötigste beschränkt, während die über 50-jährigen annähernd 50 Prozent der Konsumausgaben tätigen. Passend dazu lag das Durchschnittsalter der CP+ Besucher dem Vernehmen nach bei 61 Jahren, trotz (oder wegen?) des Anime-Mädchens auf dem offiziellen Messeplakat.
Während sich der Fotomarkt in Richtung Premium entwickelt, fehlten in Yokohama aber nicht nur die Millennials, sondern vor allem die Neuheiten, die traditionell die Nachfrage im Fotomarkt beleben.
Kamera-Concierge
Interessanter als der Besuch der CP+ war daher der des neuen Flagshipstores der japanischen Fotohandelskette Kitamura Camera, denn der zeigt beispielhaft, wie Fotoprodukte in dem sich wandelnden Markt präsentiert werden müssen.
Das Familienunternehmen betreibt seit Jahrzehnten zahlreiche Fotoläden in ganz Japan, geht aber im zentralen Tokioter Stadtteil Shinjuku neue Wege. Vermittelt wird dort eine völlig neue Art von Fotografie-Erlebnis. Auf sieben Etagen bietet der Flagshipstore rund 5.000 neue, vor allem jedoch Kameras aus Vorbesitz, außerdem einen Service-Bereich, der Unterstützung bei Reparaturen bietet und
eine Book Lounge, in der man bei einer Tasse Kaffee in Fotobüchern blättern kann. Ein Mietstudio mit professioneller Ausstattung und ein Veranstaltungsraum für Fotoausstellungen sind ebenfalls vorhanden.
Im sechsten Stock präsentiert Kitamura in seinem Vintage-Salon hochwertige Sammlerkameras. Die aktuell teuerste ist eine Leica der ersten Serie für 27 Millionen Yen (ca. 185.000 Euro). Hier berät Yutaka Maruyama nach Terminvereinbarung Sammler und Kamera-Aficionados im Stil eines Concierge und stellt passende Gehäuse-Objektivkombinationen zusammen. Der Shop wurde, ebenso wie das Logo, von renommierten Designern gestaltet, und ist seit seiner Eröffnung vor rund anderthalb Jahren zum Mekka für Hard-Core Kamerafans geworden, zieht aber auch Menschen an, die einfach Freude an Fotografie haben.
Das Wesentliche
Das die klassische Leica M eine ausgeprägte Wertschätzung im Land der aufgehenden Sonne erfährt, ist übrigens allein schon deshalb stimmig, weil sie wie keine andere dem Zen-mäßigen, ästhetischen Streben nach minimalistischer Reduktion entspricht. Insofern darf die M als japanischste aller Kameras gelten.
Dass ausgerechnet die so genannten Schwarzlack-Modelle, die deutliche Gebrauchsspuren zeitigen, besonders hochpreisig gehandelt werden, hat seinen Grund daher sicher auch darin, dass sie der Ästhetik des Unperfekten, also dem Zen-Prinzip des Wabi-Sabi nahekommen.
Fotokultur
Der erste Kitamura Camera Store eröffnete bereits im Jahr 1934. Interessant ist, welche Wandlungen sich in den Jahrzehnten danach am Fotomarkt ereigneten, der damals noch von deutschen Herstellern dominiert wurde.
Als deutsches Lehnwort verwenden Japaner übrigens bis heute „Meister“ in ihrer Sprache, um auf die Exzellenz hinzuweisen, mit der jemand seine Fertigkeiten ausübt.
In den 30er Jahren kamen die Meister der Kameratechnik und Optik aus Deutschland und werden in Japan noch heute verehrt. Im neuen Headquarter des Objektiv- und Kameraherstellers Sigma dienen Namen von Optik-Pionieren wie Gauss, Seidel oder Fresnel als Bezeichnung der Meeting-Räume.
Auch hier, nicht nur bei Kitamura Camera, pflegt man die Verbindung zur Fotokultur. So hat Sigma-CEO Kazuto Yamaki eigens eine umfangreiche und kenntnisreich editierte Fotobuch-Bibliothek im Headquarter einrichten lassen, auf die die versammelten Entwicklungs-Ingenieure und Vermarktungs-Spezialisten zurückgreifen können, um das Wesentliche der Fotografie begreifen zu können. Zu diesem Zweck scheut Yamaki-san übrigens auch nicht die Mühe, das weltweit wichtigste Fotofestival in Arles zu besuchen, wo er mir letzten Sommer über den Weg lief.
Never Stop?
Zu lernen und zu sehen, was zum Wesen der Dinge gehört und was überflüssig ist, ging der japanischen Kameraindustrie bei ihrem steten Streben nach Fortschritt teilweise verloren.
Am Anfang stand bekanntlich die Suche nach Inspiration. So präsentierte 1949 die Zeiss Ikon AG mit der Contax S die erste Spiegelreflexkamera mit Pentaprisma, aber nur drei Jahre später brachte Asahi Optical (später Pentax) die erste SLR dieser Bauart Made in Japan auf den Markt. Zehn Jahre später, nämlich 1961, produzierte die japanische Kameraindustrie bereits mehr Kameras als die deutsche. Aber nicht nur hier, auch anderswo verpasste man Chancen: Während Kodak in den USA bereits 1975 den ersten Prototypen einer digitalen Kamera entwickelt hatte, überließ man es elf Jahre später Canon, die erste Still-Videokamera auf den Markt zu bringen. Der Siegeszug japanischer Ingenieurskunst im Kamerabau kannte bis 2012 keine Grenze. „Never Stop“ lautet nicht von ungefähr das Mission-Statement von Fujifilm.
Im Jahr 2000 überflügelte die Zahl verkaufter Digitalkameras die analoger Modelle, deren Fertigung Kodak bereits vier Jahre zuvor mangels Nachfrage einstellen musste. Zehn Jahre später sank die Filmproduktion auf nur mehr ein Zehntel.
Kurz zuvor beendete Polaroid die Sofortbildproduktion. Hätte man damals geahnt, welch einen Erfolg Fujifilm mit instax seit Jahren einfährt, wären die Weichen vielleicht anders gestellt worden: Allein in Deutschland wurden 2022 460.000 Sofortbildkameras (+8%) für insgesamt 46 Mio. Euro (+35%) verkauft. Für entsprechende Sofortbildfilme gaben die Käufer weitere 34 Mio. Euro aus.
Die erste spiegellose Systemkamera war 2009 eine Olympus, eine Bauweise, der vor allem Sony mit der Einführung entsprechender Vollformatkameras im Jahr 2013 zum Durchbruch verhalf, und die der Branche aktuell Aufwind geben.
Im selben Jahr war das Smartphone schon drei Jahre auf seinem Siegeszug und schickte sich an, Kompaktkameras abzulösen. 2014 wählte Time Magazine übrigens den Selfie-Stick unter die zehn wichtigsten Innovationen des Jahres. Seitdem hat es kein anderes Fotoprodukt mehr auf diese Liste geschafft. Auf der CP+ hat die versammelte japanische Fotoindustrie, wie beschrieben, gar nicht erst versucht, Innovationen vorzustellen.
Alles Premium?
Daher wagen wir lieber einen kurzen Rückblick auf den Fotomarkt der 30er Jahre, die für die deutsche Fotoindustrie noch goldene waren. Der Listenpreis einer Leica II inklusive Objektiv lag 1934 – dem Jahr der Eröffnung des ersten Kitamura Camera Stores – in Deutschland bei 240 Reichsmark. Um das einordnen zu können: Das damals günstigste vollwertige Auto, ein Opel P4, kostete 1.650 Reichsmark, also knapp siebenmal mehr als eine Leica. Das jährliche Durchschnittseinkommen belief sich auf 1.783 Reichsmark, der Kauf einer solchen Kamera hätte also 13.5 Prozent des Jahreseinkommens beansprucht. Ein Hilfsarbeiter verdiente Mitte der 30er-Jahre aber nur 62 Pfennig in der Stunde und hätte somit 387 Stunden dafür arbeiten müssen, also gut zwei Monate (die 40-Stunden-Woche war ja noch nicht erfunden).
Wichtig zu wissen: Anders, als heute, markierte eine Leica seinerzeit nicht die obere Spitze der Marktpyramide, sondern lag gemeinsam mit einer Rolleiflex im Mittelfeld. So kostete im Photo-Porst Katalog vom August 1930 eine „wohlfeile“ 9×12 Plattenkamera 20 bis 40 RM, eine Perka oder Silar 13×18 mit Satz-Plasmat aber rund 600 RM.
Umgerechnet auf heutige Verhältnisse entspräche der damalige Durchschnittspreis einer Kamera rund 5.000 Euro. Es bleibt also noch reichlich Luft nach oben im Premium-Fotomarkt der Zukunft.
Faszination Fotografie
Was Fotografie vielen anderen Interessensgebieten voraus hat, ist die Passion, die viele Anwender mit ihr verbinden. Es ist diese Leidenschaft, die das eine Prozent der Menschen teilt, von dem Eingangs die Rede war. Über alle Alters- und kulturellen Schranken hinweg ist
es dieses eine Prozent, auf das die Fotobranche auch zukünftig bauen kann, sofern es gelingt, die Faszination der Fotografie immer neu zu entfachen, damit trotz aller fortschreitenden Trivialisierung im Umgang mit dem Medium die Passion wenigstens einen kleinen Teil immer neuer Generationen ansteckt. Das ist weniger eine Frage technologischen Fortschritts, als vielmehr die der Pflege einer Fotokultur, in deren Mittelpunkt das Bild stehen muss, dem letztlich all die Technik dient. Für dessen wachsende Popularität spricht die auch hierzulande stark wachsende Nachfrage insbesondere nach Fotobu chern, deren Umsatz von 315 auf 381 Mio. Euro um 21 Prozent zulegte. Der Durchschnittspreis kletterte zeitgleich um 23 Prozent auf 42,42 Euro.
Während die photokina als Weltmesse der Fotobranche „auf unbestimmte Zeit ausgesetzt“ bleibt (und wohl nie wieder stattfinden wird), standen selbst in der Coronakrise Menschen im Regen Schlange, um auf der Fotokunstmesse Paris Photo Bilder erleben zu können. Die Popularität von Fotoausstellungen kennt kaum Grenzen, und auch Fotofestivals sprießen wie Pilze aus dem Boden, bei denen Fototechnik oft nur am Rande eine Rolle spielt.
Die Rückbesinnung auf das Cultural Heritage der Fotografie war mit ausschlaggebend dafür, dass Leica mitten in der Coronakrise 2021 das bislang erfolgreichste Geschäftsjahr seiner Geschichte schreiben konnte. Fotokultur ist in Wetzlar in Person von Karin Rehn-Kaufmann schon seit Jahren Chefsache.
Und während weltweit innerhalb eines Jahres 30 % weniger Kompakt-Digitalkameras verkauft wurden, ist die kompakte Q2 in Wetzlar einer der wichtigsten Umsatzträger.
Damit auch andere in der Branche vom Heritage der Fotokultur profitieren können, braucht es eine Besinnung auf Fotografie als kreatives Ausdrucksmittel, mit dem die Zeit angehalten, Geschichten erzählt, Erinnerungen bewahrt und ein Bild der Welt immer wieder neu eingefangen werden kann. Das wünsche ich mir, während das Flugzeug zum Landeanflug über Deutschland ansetzt: Dass die Fotobranche ihre Chance zum Durchstarten erkennt und nutzt.
*Nachtrag: Leica gehörte nicht zu den Ausstellern der CP+