“Love Letters to the Muse”, der von Emma Summerton realisierte Pirelli-Kalender 2023, wurde jetzt in Mailand im Museum für zeitgenössische Kunst präsentiert. Die australische Fotografin hat die 49. Ausgabe von The Cal ihren Musen gewidmet, also all den Frauen, die für sie als Künstlerin und als Person auf ihrer Suche nach Inspiration ein Leitbild waren und sie auf ihrem Weg und in ihren Entscheidungen begleiteten.
Seit der ersten Ausgabe von 1964 ist Emma Summerton die fünfte Frau, die ihren Namen unter den Kalender setzt, nach Sarah Moon 1972, Joyce Tenenson 1989, Inez Van Lamsveerde (der Partner Inez and Vinoodh) 2007 und Annie Leibovitz in den Jahren 2000 und 2016. Sie hat dieses Jahr außerdem selbst, zusammen mit dem Regisseur Carlo Alberto Orecchia, die Regie für das Präsentationsvideo des Pirelli Kalenders 2023 übernommen.
„Für den Kalender wollte ich zum eigentlichen Ursprung des Wortes Muse zurückkehren. Muse stand ursprünglich nicht nur für eine Quelle der Inspiration, sondern auch für einen Menschen, der eine literarische, wissenschaftliche oder künstlerische Begabung besaß“, erklärt Emma Summerton. Wie sie von sich selbst sagt, ist sie „fasziniert von den Frauen, die außerordentliche und kreative Dinge schaffen, von den Frauen, die mich während meines ganzen Werdeganges und meines ganzen Lebens inspiriert haben, angefangen bei meiner Mutter. Frauen, von denen ich viel gelernt habe: Schriftstellerinnen, Fotografinnen, Dichterinnen, Schauspielerinnen und Regisseurinnen. Meine Vorstellung war es also, diese außergewöhnlichen Frauen zu ehren und eine Welt zu schaffen, in der ich sie darstellen kann“.
Der Pirelli Kalender enthält 28 Aufnahmen von 14 Models, die in dem verträumten Stil, der die Arbeit von Emma Summerton unverwechselbar macht, dargestellt werden. Die Auswahl der dargestellten Frauen ist wohl durchdacht. Jede von ihnen zeigt eine Wesensverwandtschaft mit der Muse, die sie darstellt. Kulisse für die Aufnahmen, die im Juni und Juli gemacht wurden, waren die Sets in London und New York. „Bei meinen Aufnahmen ist die Grenze zwischen der Rolle, die die Models spielen, und dem, was sie wirklich sind, verschwommen und alles verschmilzt in Bildern, die wie im magischen Realismus erscheinen“, erklärt die Fotografin.
Und so haben wir z.B. Guinevere Van Seenus, die nicht nur ein Topmodel, sondern tatsächlich auch Fotografin ist; Lauren Wasser ist Model und Athletin; Ashley Graham, die im Kalender die Aktivistin darstellt, ist bekannt für ihr Engagement im Namen der Body Positivity; Precious Lee, die Erzählerin, schreibt mit Leidenschaft Bühnenstücke und Geschichten.
Als das Team von Pirelli zum ersten Mal im Archiv der Arbeiten von Emma Summerton blätterte, war es sofort von ihrer Fähigkeit fasziniert, Reales und Surreales ineinander übergehen zu lassen und der modernen und malerischen Welt Form zu verleihen, die prägend für ihr Werk sind. Als die Künstlerin begann, das Konzept für ihr Projekt auszuarbeiten, ließ sie sich vor allem von ihren Werken und der Vielfalt von künstlerischen und lebensnahen Themen inspirieren, denen sie sich stets zugewandt hat. Surrealismus und magischer Realismus, Schönheit und wilde Natur, Liebe für Blumen und wilde Zweige sowie die Kraft des Tierreiches mit dem Symbolgehalt, den alles dies in Kunst, Dichtung, Musik und Literatur verkörpert.
Das anfängliche “Moodboard” von Emma enthielt dementsprechend eine Mischung von Themen, die anscheinend keinen Zusammenhang hatten, für sie jedoch komplementär waren. Elemente, die sie stets in ihrem tiefsten Inneren bewegt haben, schon als sie noch ein Kind war. Darunter vor allem die Werke der Australierin Vali Myers, Künstlerin und Bohemienne, die sie während ihrer Zeit auf der Kunstschule entdeckte. Ihre jugendliche Leidenschaft für Marilyn Monroe. Die Lieder der australischen Sängerin Crissy Amphlett, mit der sie später Freundschaft schloss. Ein Bild der italienischen Schauspielerin Monica Vitti, mit windverwehtem Haar auf einer Insel in Gedanken versunken, die sie an ihre Mutter erinnerte. Surrealistische Malerinnen wie die mexikanische Künstlerin britischen Ursprungs Leonora Carrington, eine der Gründerinnen der Frauenbefreiungsbewegung in Mexiko, deren symbolhafte Darstellungen Emma schon immer faszinierten, ebenso wie die traumhaften Gemälde des Mexikaners Remedios Varo und der Amerikanerin Gertrude Abercrombie, die in ihre Werke oft kleine Eulen und Katzen einarbeitete.
Zusammen mit ihrer Mutter, die sie immer unterstützt hat, entwarf Emma Mädchenkleidung, und dies stärkte ihr Vertrauen in ihre Kreativität. Ebenso bedeutend war für sie ihr Großvater. Er zeigte ihr und ihren Schwestern Dias oder Filme, die er mit einer Super 8 aufgenommen hatte, hörte mit ihnen Musik oder tanzte mit ihnen im Garten. Er schuf für sie magische Augenblicke, die Emma dazu angeregt haben, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Diese Erfahrungen gaben ihrer Vorstellungskraft und ihren Jugendträume starke Impulse.
„Vieles meines visuellen Storytellings habe ich meinem Großvater zu verdanken. Ich war ein ungezähmtes Kind, aber ebenso wie meine Mutter hat auch er meine Persönlichkeit immer unterstützt. Von beiden habe ich die Zuneigung zum Tier und der Natur, die in meinen Werken fast immer präsent sind“.
Bevor sie mit den Aufnahmen beginnt, fragt sich Emma immer, wer die Hauptdarstellerin ihres Werkes ist, denn die Frau und vor allem ihre Menschlichkeit, sind das, was sie wirklich anregt. „Man muss verletzbar sein, um das innere Wesen der anderen zu erkennen“, erklärt sie. Bei der Suche nach den Antworten auf die Fragen, die den Kalender einleiten – „wer ist die Frau (…), wen liebt sie (…), wie liebt sie?“ – hat sie sich in Gedanken vorgestellt, wer jede dieser Frauen sein könnte, aber es fehlte noch der Leitfaden, der sie miteinander verband. Das Wort „Muse“ erschien ihr der geeignete Verbindungspunkt. Ihre Darstellerinnen sind Models, aber auch Musen, die je nach der Art und Weise, wie sich jede von ihnen der Welt präsentiert, durch das Prisma der verstärkten Realitätsvorstellung der Fotografin abgelichtet werden.
Die Muse „Fotografin” war der Ausgangspunkt des Projektes von Emma, die für diese Rolle Guinevere von Seenus ausgewählt hat. Ihr folgte Sasha Pivovarova, Model und Malerin, die Emma immer als ein Gemälde ihrer selbst erschien. Daher entstand die Idee, dass Sasha Pivovarova auf ihren Wänden in einem Raum malte, der die bunten, überschwänglichen und bohemienhaften Werke von Vali Myers wieder aufnahm. „Man sieht Ringe und Kreise, die sich miteinander verbinden, denn für Sasha besteht kein Unterschied zwischen dem Model und der Malerin, und daraus entsteht eine gute Synergie“.
Der Rest kam von allein. Cara Delevingne, Model, Schauspielerin und Musikerin, wurde zur Performerin, die trotz allem immer wieder triumphierend aus ihrer fantastischen inneren Welt auftaucht. Karlie Kloss, die Technologie-Expertin, die es liebt, in einer futuristischen virtuellen Umgebung Coding zu unterrichten. Bella Hadid als der Kobold, der von sich nur das preisgibt, was er andere wissen lassen möchte. Ashley Graham, die Aktivistin, die in einer imposanten Rüstung l auf einem Sofa ihr Licht ausstrahlt und mit herausforderndem Blick in die Kamera sieht. Die Athletin Lauren Wasser, die in einer dürren, fast mondartigen Landschaft wie eine außerirdische Königin aufgenommen wird, die zum Kampf bereit ist.
Adut Adech, die Traumfängerin, die ihre eigene poetische Eroberungsgeschichte darstellt. Adwoa Aboah, die Königin, deren würdige und zurückhaltende königliche Erscheinung einen inneren Kampf verhüllen, den sie mit der Eleganz einer Nofretete austrägt. Lila Moss, die Weissagerin, die junge und zugleich antike Seele, die mit der Erde verschmilzt, während sie in ihrem magischen Garten ihre Weissagungen kundtut. Emily Ratajkowski, die Schriftstellerin, die als Spiegelbild der zwei Seiten ihres Gesichtes dargestellt wird, als wollte sie fragen „welche Seite glaubst du, dass
ich wirklich bin?“. Kaya Wilkins, die Musikerin, die für ihre Texte von einem Raben inspiriert wurde und in einer bohemienhaften Umgebung abgebildet wird. Precious Lee, die Erzählerin, deren Welten von ihrer Reise erzählen, die sie mit allen Mitteln übersetzt, einschließlich dem Kinofilm. He Cong, die Weise, die in ihrer natürlichen Ruhe und Freundlichkeit dargestellt wird und die das Leben wie in einem Traum lebt.
Emma Summerton strebt es immer an, mit ihren Models eine persönliche Beziehung herzustellen und einen tiefergehenden Dialog mit ihnen zu haben. Für Emma ist der Pirelli Kalender 2023 nicht nur eine Anerkennung an das, was der schöpferische Prozess für sie bedeutet, sondern auch an die Art, in der jede ihrer Musen einen großen kollektiven und menschlichen Leitfaden darstellen, der aus Emotionen und Inspirationen besteht.