Der Kinofilm MINAMATA setzt dem legendären Fotografen W. Eugene Smith ein Denkmal. Zwei Jahre nach der Premiere bei den Filmfestspielen in Berlin ist er jetzt auch bei uns verfügbar. Anschauen lohnt sich …
W. Eugene Smith war international bekannt für seine eindrucksvollen und intimen Bilder, angefangen bei seinen Aufnahmen an der Pazifikfront des Zweiten Weltkriegs, bei denen er schwer verletzt wurde, bis hin zu seiner Reportage über eine Hebamme im ländlichen South Carolina. Smiths wichtigstes und einflussreichstes Werk war jedoch sein letzter Fotoessay, der während eines dreijährigen Aufenthalts in der japanischen Küstenstadt Minamata entstand.
Basierend auf der wahren Geschichte, beginnt die filmische Erzählung von MINAMATA im New York des Jahres 1971. Nach seinen Tagen als Fotojournalist im Zweiten Weltkriegs hat W. Eugene Smith (gespielt von Johnny Depp) sich von der Gesellschaft zurückgezogen. Doch ein Auftrag des Life-Magazin-Herausgebers Robert Hayes (gespielt von Bill Nighy) schickt ihn in die japanische Küstenstadt Minamata, deren Bewohner von einer Quecksilbervergiftung heimgesucht werden – das Ergebnis jahrzehntelanger industrieller Nachlässigkeit durch die Chisso Corporation.
Dort taucht Smith in die dörfliche Gemeinschaft ein und dokumentiert ihre Bemühungen, mit der Minamata-Krankheit zu leben. Mit seiner Kamera begleitet Smith die leidenschaftliche Kampagne der Bewohner um die Anerkennung ihrer Misere durch Chisso und die japanische Regierung.
Tomoko in Her Bath
Erst Smiths Bilder der menschlichen Dimension der Katastrophe verhalfen ihnen zum Erfolg und wurden auch für den Fotografen zu einer lebensverändernden Erfahrung.
Ein Foto entfaltete dabei eine größere Wirkung als alle anderen: „Tomoko in Her Bath“, aufgenommen im Dezember 1971, zeigt eine Mutter, die ihre an der Minamata-Krankheit erkrankte Tochter badet. Dieses Schwarz-Weiß-Bild gilt nicht nur als Smiths bedeutenstes Foto, sondern hat mit seiner schonungslosen Offenbarung der körperlichen Auswirkungen der Krankheit auf die Menschen auch die internationale Aufmerksamkeit auf die Kampagne der Minamata-Bewegung gelenkt.
Smith, der bereits unter seinen Kriegsverletzungen litt, wurde bei einer Konfrontation in der Fabrik des Konzerns vom Chisso-Werkschutz so schwer verletzt, dass er infolgedessen Ohnmachtsanfälle erlitt und vorübergehend auf einem Auge erblindete.
„Ich bin seit langem ein Fan von Gene Smith“, so Andrew Levitas, Regisseur von Minamata,
Im September 2018 reisten Levitas und das Produktionsteam nach Minamata. „Wir haben uns mit einigen der überlebenden Opfer und ihren Familien getroffen“.
Die Wahl des Hauptdarstellers fiel auf Johnny Depp, der aufgrund des Vorwurfs häuslicher Gewalt noch vor der Filmpremiere der Cancel Culture zum Opfer fiel, weshalb MINAMTA auch in den USA erst zwei Jahre verspätet und nur in sehr wenigen Kinos gezeigt wurde.
Der Schauspieler war bereits vor den Dreharbeiten mit Smith vertraut: „Seit vielen Jahren war ich von ihm fasziniert“, so Depp. „Ich kannte Mary Ellen Mark sehr gut. Sie war wie er eine Zeit lang Fotografin bei Magnum und kannte W. Eugene Smith. Sie erzählte mir, dass er eine Art griesgrämiger, aber hochsensibler Bohemien war, ein abgebrühter Kriegsfotograf, der alles gesehen hatte.“
Gene und Johnny
Andrew Levitas: „Gene war ein tragischer, geplagter Mensch. Sein Redakteur beschrieb ihn als den schwierigsten Fotografen, den das LIFE-Magazin je hatte, und Johnny bringt all diese Eigenschaften in genau den richtigen Momenten zum Ausdruck. Sein Gene ist vielleicht kein exakter, wortgetreuer Abdruck von Gene Smith, aber er ist die Seele von Gene Smith.“
Angesichts des sensiblen Themas und der Tatsache, dass der Film auf realen Ereignissen beruht, die auch heute noch relevant sind, war Authentizität bei der Produktion von größter Bedeutung. „Sie ist wichtig, denn wenn man nicht das Gefühl hat, wirklich dabei zu sein, nimmt das der Botschaft etwas von ihrer Wirkung“, so Levitas. „Es war hilfreich, dass wir eine riesige Menge an Referenzfotos und -videos hatten. Wir hatten das gesamte Archiv von Gene und seiner Frau Aileen Smith. Das Center for Creative Photography in Arizona war ebenfalls eine unschätzbare Ressource bei der Umsetzung des Films, da es Original-Kontaktbögen, Negative und Material aus Genes Dunkelkammer in Minamata zur Verfügung stellte. Es gab eine solche Fülle an Material, dass wir während der Produktionsvorbereitungen 400-seitige Dossiers mit Referenzmaterial für jeden der Darsteller zusammenstellen konnten“, so der der Regisseur.
Die Produktion wurde außerdem von W. Eugene Smiths Frau Aileen unterstützt, die regelmäßig am Set anwesend war. Da sich Minamata selbst seit den 70er Jahren jedoch drastisch verändert hat (es ist heute eine sehr modern aussehende Ökostadt), konnte nur ein kleiner Teil des Films vor Ort gedreht werden. „Es hat ein bisschen gedauert, aber ich glaube, wir hatten großes Glück, etwas sehr Ähnliches zu finden“, so Levitas. „Die topografischen Gegebenheiten am Drehort passten sehr gut, und wir mussten nur eine Bar am Strand, ein Bootshaus und Eugene Smiths Dunkelkammer nachbauen.“ Die Liebe zum Detail erstreckte sich auch auf Eugene und Aileen, deren Kleidung anhand von Fotos akribisch nachgebildet wurden. „Eugene trug immer dieses zerknitterte Hemd mit den vielen Taschen“, so die Kostümbildnerin. „Das einzige Kleidungsstück, das nicht neu angefertigt wurde, war Eugens Brille. Sie war alt – aus den 60er Jahren, um genau zu sein. Es waren Brillen, die er vor dieser Zeit trug, denn die, die er in den 70er Jahren trug, sahen an Johnny nicht wirklich gut aus. Wir haben also eine Brille verwendet, die Eugene wirklich trug, aber eben zu einer anderen Zeit.“
Der strenge Sinn der Produktion für Authentizität bestimmt auch den visuellen Stil von Minamata. „Ich habe den Film so aufgebaut, dass er komplett aus Genes Sicht gedreht wurde“, sagt Levitas. „Wir befinden uns in Genes Kopf und sehen die sich entfaltenden Ereignisse durch sein Objektiv. Er ist einer der größten Fotografen aller Zeiten, ein Mann, der die Bilder in seinem Kopf hatte, noch bevor er die Kamera in die Hand nahm.“
Die Produktion spürte sogar Smiths Zollformulare auf, um genau die Kameras und Objektive zu finden, die er nach Minamata mitgebracht hatte. „Johnny und ich haben unzählige Stunden damit verbracht, darüber zu sprechen, wo Genes Gedanken in jedem Moment sein würden: was passiert, was vor sich geht, und die ganze Hintergrundgeschichte aufzubauen“, so Levitas
A Warning to the World
Als W. Eugene Smith und Aileen Mioko Smith 1975 ihren Fotoessay als Buch veröffentlichten, trug es den Untertitel „A Warning to the World“. Die Macher von Minamata hoffen, dass auch ihr Film auf diese Weise gesehen wird.
„Der Moment, den dieser Film einfängt, trug zur Geburt der modernen Umweltbewegung bei“, so Levitas. „Aber so etwas passiert auch weiterhin. Wir leben in einer Welt, in der der Schutz der Menschen überall zurückgedrängt wird. Wir sind an einem Tiefpunkt angelangt, und vielleicht können wir mit diesem Film die gleiche Wirkung erzielen, wie W. Eugene Smith damals mit seinen Fotos.“
Aber, so betont der Regisseur: „Dies ist kein belehrender Film. Ich hoffe, dass er spannend und unterhaltsam ist und dem, was Gene getan hat, visuell gerecht wird. Und was er getan hat, war, die schwierigsten Momente zu finden und darin Licht, Liebe und Menschlichkeit zu zeigen. Das ist ein unglaublich schwieriges Unterfangen. Aber wenn man die Welt auf seine Weise sehen kann, ist sie auch in den dunkelsten Momenten noch ein schöner Ort. Das Leben ist ein Geschenk und ein Segen, und das bringt W. Eugene Smith in seinen Bildern zum Ausdruck. Ich denke, das ist ein Teil dessen, was wir hoffentlich mit dem Film visuell erreicht haben.“ Seit Anfang April ist der Film auch bei uns im englischsprachigen Original auf DVD erhältlich.