Der Galerist Julian Sander hat rund 10.000 NFT (Non-Fungible Token) kostenlos auf der Plattform Opensea.io angeboten, die Kontaktabzüge seines Urgroßvaters August Sander sowie Informationen zu den jeweiligen Werken beinhalten, die von der Familie Sander über vier Generationen recherchiert wurden.
Julian Sander nutzt die Möglichkeiten der Blockchain, die Arbeiten in dieser Form dezentral und dauerhaft online zu archivieren. Der deutsche Fotograf August Sander (1876-1964) wird weithin als eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Fotografie des 20. Jahrhunderts anerkannt. Zu den vielen Projekten, die Sander im Laufe seiner langen Karriere zusammenstellte, gehört sein enzyklopädisches Porträtwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Die 619 Bilder umfassende Arbeit wurde 2015 vom MoMA erworben. Sie stellt jedoch nur einen kleinen Teil des umfangreichen Vermächtnisses August Sanders dar, das tausende Architektur-, Landschafts-, Natur-, Tier- und andere Fotoarbeiten umfasst.
Julian Sander: „Wir ehren unsere Vorfahren, indem wir uns an sie erinnern. Wir bauen Denkmäler und bewahren Erinnerungsstücke auf. Wir teilen die Geschichten mit unseren Kindern und Enkelkindern. Im Fall von August Sanders‘ Werk kann dies nicht mehr von einer einzelnen Familie oder Institution geleistet werden. Die größte Gefahr ist der Verlust von Wissen und Erkenntnissen allein dadurch, dass das Interesse an dem Werk nicht befriedigt werden kann. Aus diesem Grund gebe ich diese NFT kostenlos ab“, so der Galerist.
Ein Non-Fungible Token (NFT) ist bekanntlich ein nicht austauschbares (englisch non-fungible) digitales Objekt. Nicht zuletzt für Fotografen, Auktionshäuser, Kunsthändler und Galeristen ist so eine neue Möglichkeit entstanden, Bilder als Quasi-Unikate handelbar zu machen. Der Verkauf, die Herstellung (minting) und der Eigentumsnachweis wird hierbei in einer Blockchain abgebildet. Während NFT dabei eigentlich die Funktion „digitaler Originale“ übernehmen, handelt es sich bei den August Sander NFT um den physikalischen Kontaktabzug.
Für Julian Sander stellen NFT jedoch unabhängig davon einen Meilenstein in der Geschichte der Fotografie dar: „Seit ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Theorien, die Ästhetik und die Vertriebsmodelle des Mediums vom technischen Fortschritt getrieben“, so der Galerist und Hüter des Werks von August Sander. „Jetzt, im 21. Jahrhundert, hat sich ein neues technologisches Paradigma durchgesetzt, und wir können beginnen zu verstehen, was die Fotografie im Zeitalter der Blockchain sein kann.“ Schließlich habe das Vermächtnis von August Sanders Werk mehr als ein Jahrhundert technologischen Wandels durchlaufen. Währenddessen haben drei Generationen von Sanders Nachkommen die Aufgabe übernommen, sein umfangreiches Archiv zu verwalten. Julian Sander: „In der Fotografie begibt sich das Bild auf eine Reise, die von Medium zu Medium führt. Ein Bild, das einst als Lichtreflexion existierte, wandert von der Glasplatte oder dem Film zum Papier in Form von Büchern und Abzügen und weiter zu digitalen Dateien. Auf der Blockchain können Sanders Fotografien nun ein dauerhaftes Zuhause finden.“ Jedes NFT in dieser Sammlung soll gleichsam der Schlüssel zu einem Jahrhundert an Wissen sein, das von der Familie des Fotografen sorgfältig bewahrt und gepflegt wird. Denn es handelt sich um einen Informationskodex mit Anmerkungen und Metadaten, die mit der Zeit um zusätzliche Attribute ergänzt werden sollen, so dass die NFT als ein lebendiges und aktives Archiv fungieren, das in der Blockchain bewahrt wird. Die NFT repräsentieren derzeit erst einen kleinen Teil des über vier Generationen angesammelten Wissens über das damit verbundene Werk, das in die August Sander Research Database (ASRD) integriert ist.
Julian Sander: „Diese Informationen werden, wenn sie von Fachkollegen geprüft wurden, bei künftigen Aktualisierungen in die Metadaten der einzelnen NFT aufgenommen. Auf diese Weise sichere ich das Erbe von August Sander in der Blockchain. Die Art der Blockchain-Daten und der dezentralen Speicherung von Informationen ist für Archive, wie das von August, sehr vielversprechend. Es ist eine digitale Form unseres kollektiven kulturellen Gedächtnisses. Das ist eine außergewöhnliche Sache. Jede Person, die ein NFT aus dieser Sammlung beansprucht, wird in die Liste der Verwalter von August Sanders Werk eingetragen“, so Julian Sander: „Und so wird es nicht nur seine Familie sein, durch die Sanders Werk weiterlebt, sondern durch uns alle.“
Foto © Julian Sander
*Der Beitrag wurde aufgrund von notwendigen Präzisierungen nach Drucklegung der ProfiFoto Ausgabe 4/22 aktualisiert. Der in der Printausgabe veröffentlichte Text weicht daher von der hier aktualisierten Fassung ab.
14. Februar 2022
Zuletzt aktualisiert am 17. März 2022*
UPDATE
19.3. 2022
Die August Sander 10k Kollektion ist aktuell von OpenSea suspendiert worden, weil eine dritte Partei, die behauptet, bestimmte Rechte an den Fotos von August Sanders zu haben, eine Beschwerde bei OpenSea eingereicht hat.
Julian Sander nahm am 19. März auf seinem Twitter Account wie folgt Stellung: „Um es klarzustellen: Die Kollektion lebt weiter, und die bisher ausgestellten NFTs sind weiterhin gültig. Sie ist lediglich derzeit nicht auf der Plattform gelistet.
Sie wurde gesperrt, Ich bin der Meinung, dass die Beschwerde nicht berechtigt ist, und ich stehe mit meinen Rechtsberatern in Kontakt, um diese Angelegenheit so schnell wie möglich zu klären und die Sammlung wieder auf die Plattform zu stellen. Das hat für mich im Moment oberste Priorität.
In der Zwischenzeit arbeiten wir weiter an der Entwicklung der Sammlung. Bei der Entwicklung des Konzepts für dieses Projekt habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, die langfristige Verantwortung für die Bewahrung des Wissens, das meine Familie seit vier Generationen besitzt und weitergibt, auf die Blockchain zu übertragen. Dazu gehört auch die Übertragung des Eigentums an dem physischen Kontaktbogen, der auf OpenSea zu sehen ist. Diese 1:1-Analogabzüge, die direkt von den Negativen meines Urgroßvaters erstellt wurden, sind mit handschriftlichen Forschungsnotizen meines Vaters Gerd und seiner Mitarbeiter versehen, die er im Laufe der Jahrzehnte, in denen er mit ihnen arbeitete, anfertigte. Die physischen Kontaktbögen sind in einigen Fällen die einzigen bekannten Abzüge von diesen Negativen. Die von der Gemeinschaft geprägten NFTs repräsentieren dieses Eigentum.
Gemeinsam mit Fellowship arbeiten wir an einem Rücknahme- und Übergabemechanismus, der es den NFT-Besitzern ermöglichen wird, diese Objekte in Besitz zu nehmen. Wir werden zu gegebener Zeit weitere Informationen dazu geben“, so der Urenkel von August Sander.
„Ich entschuldige mich für den holprigen Start. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass das OpenSea-Problem gelöst werden kann, und möchte die Community ermutigen, bei der Sammlung zu bleiben.“