Christoph Wiesner (Jahrgang 1965) leitete große Kunstgalerien in Berlin und Paris, war von 2015 bis 2020 künstlerischer Leiter der Paris Photo, der wichtigsten Fotografiemesse der Welt, und wechselte im vergangenen September überraschend als Direktor zum Fotofestival Les Rencontres de la Photographie nach Arles.
ProfiFoto: Du bist von der größten und wichtigsten Kunstmesse für Fotografie zum größten und wichtigsten Fotografiefestival gewechselt – und das mitten in der Corona-Zeit. Wieso hast du das gemacht?
Christoph Wiesner: Ich kam im März 2020 gerade aus New York von der Feinabstimmung für die neue Messe Paris Photo New York zurück, die am 1. April 2020 hätte stattfinden sollen. Ich kam also zurück und mein Chef sagte mir, dass ich 24 Stunden Zeit hätte, mein Büro zu räumen, weil ab jetzt alle ins Homeoffice müssten und die Messe werde auch abgesagt. Ein paar Stunden später kam dann die Nachricht, dass die USA den Europäern die Einreise verweigert. Die gesamte Arbeit von Jahren war plötzlich auf Null gesetzt und damit auch unsere Euphorie. Und wir wussten ja auch nicht, wie es überhaupt mit Messen weitergehen würde.
Ich hatte hatte, dass der bisherige Direktor des Rencontres de la photographie, Sam Stourdzé, nach Rom gehen und seine Position frei werden würde. Und da ich mir schon lange gewünscht hatte, auf kuratorischer Ebene aktiver zu sein, war es eine unglaubliche Gelegenheit, mich einer anderen Aufgabe zu widmen. Und das habe ich dann gemacht.
Du kommst aus dem Kunstmarkt, Arles ist aber ein Festival. Wie ist dieser Wechsel der Systeme für dich? Musst du anders denken oder sind die sich ähnlicher als man allgemein denkt?
Es sind schon zwei sehr unterschiedliche Dinge, aber gleichzeitig vervollständigen und ergänzen sich die Plattformen mittlerweile auch. Nicht alles, was wir auf dem Kunstmarkt sehen, spiegelt auch die komplette Bildproduktion wider, das ist klar. Aber was man auf einem Festival entdecken kann, kann man vielleicht ein Jahr später auf dem Markt wiederfinden. Es gibt da mittlerweile eine Durchlässigkeit, die es damals nicht gab. Auch bei Nachwuchs-Kunstpreisen stecken heute viel häufiger Galerien dahinter, die das unterstützen und Ausstellungen ermöglichen, als vor zehn oder 15 Jahren. Gleichzeitig hat Arles aber auch ein sehr großes Spektrum an Ausstellungen, das es auf dem Kunstmarkt so nicht unbedingt gibt. Es gibt einen sehr historischen Teil und einen Teil, der sich auf Archiv-Fotografie bezieht. In diesem Jahr haben wir z.B. „Orient-Express“ – das ist das Firmenarchiv eines Schlafwagen-Herstellers, für das auch Fotografien erzeugt wurden, was aber natürlich nichts mit dem Kunstmarkt zu tun hat. Oder nehmen wir Sabine Weiss, die wir auch zeigen. Sie gilt mit ihren 97 Jahren als wichtige Vertreterin einer humanistischen Fotografie, aber wenn man sie fragt, sagt sie „Ich war keine Künstlerin, ich war ein Handwerker.“ Aber nach Feier-abend ist sie mit ihrer Kamera losgezogen und hat frei fotografiert. In unserer Ausstellung bringen wir das alles von ihr zusammen.
Welche Erfahrungen und Ideen bringst du aus Paris mit nach Arles?
Dieses Jahr ist ein bisschen ein Zwischenjahr, denn die Hälfte der 20 Ausstellungen war schon vorhanden, weil mein Vorgänger Sam Stourdzé sie eigentlich 2020 zeigen wollte, Arles dann aber ausgefallen ist. Mir ist es wichtig, dass auch in Zukunft noch mehr internationale Verknüpfungen hergestellt werden. Im Jahr 2020 haben wir mit dem Serendipity-Festival in Goa und dem gemeinsamen Serendipity Arles Grant angefangen. Wir haben gemeinsam mit einer Jury ein Stipendiums-Projekt ausgewählt, aber mir ist es wichtig, dass man das nicht einfach nur zeigt, sondern auch einen Einblick in die Bildproduktion eines Kontinents oder einer Region ermöglicht, damit die Besucher verstehen, warum wir diese Position ausgewählt haben. Wir haben das damals schon mit dem Jimei X Arles Discovery Award in China gemacht und ich will das auf jeden Fall fortführen und weiter ausbauen, beispielsweise mit Südamerika.
In diesem Jahr haben wir aber auch noch Ausstellungen zum Thema
Gender und Identität. Ich möchte das Thema damit aber nicht abhaken, sondern es auch in zukünftigen Festivals ins Programm einfließen lassen und damit andere Ausstellungen ergänzen, damit man nicht immer nur so Schwerpunktausstellungen hat, die dann wieder vorbei sind. Und wenn man sich die junge Fotografengeneration anschaut, merkt man, dass sich unheimlich viele mit Identität beschäftigen – und das Thema oft auch sehr subtil und filigran in ihre Arbeit einbauen, ohne es zum Hauptthema zu machen.
Wichtig ist mir aber auch, die Transdisziplinarität, die mein Vorgänger Sam Stourdzé angefangen hat, fortzuführen. Es gibt viele andere Festivals, auch in Südfrankreich, bei denen ich mir sehr gut vorstellen könnte, gemeinsam Sachen zu machen. Die ersten Gespräche haben wir dazu auch schon geführt und mit dem „Grand Arles Express“ verbinden wir bereits Arles mit den Städten Avignon, Marseille und Nîmes und die Fotografie mit der Popkultur. Solche Kollaborationen kann man noch viel weiter führen, aber dafür muss man sich mehr Zeit nehmen, denn andere Partner haben einen anderen Modus Operandi als wir.
Mit dir ist auch ein komplett neuer grafischer Look des Festivals gekommen.
Sam Stourdzé hat die Fotografie auf den Plakaten und in den Kampagnen auf den Kopf gestellt. Das war eine Referenz an den Ursprung der Fotografie, wie sich das Bild in der Kamera, aber auch in unserem Auge verkehrt herum abbildet. Das war eine sehr radikale Geste von Stourdzé.
Jetzt habt ihr aber ein neues Design und das ist in gewisser Weise auch radikal: Ihr habt ein übergroßes A auf das Foto platziert.
Die Idee war: Wenn das Bild wieder gerade ist, dann muss man etwas dazu addieren. Schrift bietet sich da natürlich an, aber es kann auch einfach nur ein Buchstabe sein. Allerdings muss der Buchstabe ein wenig durchsichtig sein, damit man das Foto auch dahinter noch leicht erkennen kann. Also durch das A von Arles kann man noch immer das Foto erkennen. Gleichzeitig steht das A auch für den Beginn und den Anfang des Alphabets.
Frankreich hat mit der Paris Photo und dem Rencontres d’Arles zwei der wichtigsten Fotografieereignisse der Welt und ich frage mich, ob die Franzosen generell fotografieaffiner sind als beispielsweise die Deutschen, weil es die Fotografie hier immer noch etwas schwerer hat.
Das hat vielleicht auch mit der Geschichte zu tun, weil die Fotografie hier erfunden wurde. Natürlich gab es im 19. Jahrhundert viele, die daran geforscht haben, beispielsweise in England, aber es war 1839 in Paris, als das Verfahren der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Gleichzeitig wurde das Festival in Arles 1970 von drei Fotografieliebhabern – einem Fotografen, einem Schriftsteller und einem Kunsthistoriker – gegründet. Damals konnte niemand vorhersehen, was daraus einmal werden würde. Heute ist es zu einer Tradition geworden.
Aber zur Eröffnung nach Arles kommt sogar der Staatspräsident vorbei. In Deutschland wäre es unvorstellbar, dass die Bundeskanzlerin bei einer Fotofestivaleröffnung vorbei schauen würde.
(lacht) Es liegt aber auch daran, dass die Kultur ein wirtschaftlich sehr wichtiger Faktor in Südfrankreich ist. Hier stehen sowohl die Stadt Arles als auch die Region und das Land komplett hinter der Kultur und dem Festival. Im letzten Jahr, als das Festival ausgefallen ist, war das für die Region wirklich sehr hart: Man geht von einem wirtschaftlichen Verlust von etwa 35 Millionen Euro aus. Aber natürlich wurde das Festival über fünf Jahrzehnte hinweg von den unterschiedlichen Direktoren aufgebaut und groß gemacht. 2014 hatten wir 86.000 Besucher beim Festival, nur fünf Jahre später waren es 142.000 Besucher. Allein zur Eröffnungswoche kamen rund 20.000 Leute. Das heißt aber auch, dass 120.000 Leute erst im Laufe des Sommers kommen. Das ist enorm. Aber auch bei der Paris Photo gab es Zuwächse. 2015, als ich angefangen habe, hatten wir 55.000 Besucher, und 2019 waren es 72.000. Das Interesse an der Fotografie steigt also generell.
Welchen Einfluss hat Corona auf euer diesjähriges Programm?
Wir haben uns auf größere Ausstellungsräume im historischen Zentrum konzentriert und wir haben gleichzeitig eine Limitierung, wie viele Besucher sich gleichzeitig in einer Ausstellung aufhalten dürfen. Außerdem müssen die Besucher vorab Time-Slots buchen. Das ist ja ähnlich wie in Deutschland, aber es wird Einfluss auf unsere Ticketverkäufe haben.
Das Festival lebt aber auch davon, dass Menschen zusammenkommen, sich begegnen und gemeinsam feiern – mit „Rencontres“ tragt ihr das Motto sogar in eurem Namen. Wie passt das mit Corona zusammen?
Wir müssen uns alle anpassen, Rencontres bzw. Treffen werden nach wie vor stattfinden, aber Partys wird es während der Eröffnungswoche wohl eher nicht geben. Den traditionellen Abend „Le Nuit de L’Année“, an dem sich Profis und Einwohner getroffen haben, können wir in diesem Jahr ebenfalls nicht durchführen. Das ist einfach nicht corona-kompatibel. Auch wird es kein Fotobuch-Festival mit Verkaufsständen geben: Es ist zu kompliziert zu kontrollieren, wie viele Leute an welchem Stand beisammen stehen.
Und die legendären Abende im Amphitheater?
Wir können drei Abende im Amphitheater beibehalten. Normalerweise kann man bis zu 2.500 Menschen darin unterbringen, aber auch in der Pandemie dürfen wir zwischen 600 und 800 Leute hineinlassen. Sobald wir also kontrollieren können, wie viele Menschen sich an einem Ort aufhalten, können wir das auch machen. Dann werden wir unter anderem die Preise verleihen, das ist natürlich sehr wichtig. Außerdem werden wir einen Photo-Slam veranstalten: Über einen Open Call wählen wir 10 bis 15 junge Fotografinnen und Fotografen aus, die jeweils fünf Minuten ihre Arbeiten auf der riesigen Leinwand vorstellen können. Das ist eine Art kleiner Wettkampf.
Ich habe mir gerade den Inzidenzwert in Frankreich angeschaut und der liegt in der Region Arles und Marseille mit rund 500 besonders hoch. Was macht ihr, wenn es weiter steigt und es Ausgangsbeschränkungen geben wird?
Zurzeit gehen wir davon aus, dass es besser wird. Aber wenn es schlimmer wird, müssen alle Veranstaltungen, nicht nur unser Festival, pausieren und wir können nicht eröffnen. Aktuell legt die Regierung neue Kriterien fest und die müssen wir erst einmal abwarten.
Mit wie vielen Besuchern rechnet ihr aktuell? Viele Leute trauen sich nicht zu reisen oder gar ins Ausland zu gehen und Arles lebt ja auch von internationalen Gästen. Gibt es Nationalitäten, von denen ihr wisst, dass es schwer sein wird, die nach Arles zu locken, weil sie nicht kommen wollen oder vielleicht sogar nicht kommen dürfen?
Die Amerikaner, mit denen wir zu tun haben, sind überwiegend zum zweiten Mal geimpft worden und sind bereit wieder zu kommen. Aber natürlich wird das einen Einfluss auf die Besucherzahlen haben und ich glaube, es kommen vor allem die Europäer. Allerdings muss man auch sagen, dass internationale Besucher nur etwa 15 Prozent ausmachen und von denen kommt die Hälfte zur Eröffnungswoche. Der Rest sind Franzosen, die aus dem gesamten Land anreisen.
Und welche Nationalitäten sind am stärksten vertreten?
Die Schweizer, die Deutschen und die Belgier, dann noch ein bisschen Briten, Italiener und Spanier.
Wenn man nicht wüsste, dass Corona ist, liest sich euer Programm relativ normal. Gibt es etwas, was ihr digital bzw. virtuell macht, weil es anders nicht geht?
Es gibt das Ritual in der Eröffnungswoche, dass die Festivalleitung zusammen mit den Kuratoren, den Künstlern und vielen Besuchern durch die Ausstellungen läuft. Das werden wir so nicht machen können. Es wird zu jeder Ausstellung aber ein Gespräch auf einer Bühne geben, zu dem Besucher im Publikum und mit dem entsprechenden Abstand dabei sein können.
Und die Time-Slots, die man vorher reservieren muss, sind schon die radikalste Maßnahme, die man bislang gemacht hat. Digital werden wir in diesem Jahr vor allem das Portfolio Review machen – es wäre einfach zu kompliziert geworden, das in einer Präsenzveranstaltung umzusetzen.
Ein anderes Thema: In Arles merkt man die Auswirkungen des Klimawandels schon sehr konkret, denn viele Besucher leiden unter der enormen Hitze, wenn das Thermometer auf mehr als 40 Grad steigt. Müsst ihr euer Festival möglicherweise ins Frühjahr oder den Herbst verlegen, weil es irgendwann nicht mehr aushaltbar sein wird?
Diese Klagen über die Hitze kommen jedes Jahr vor, das stimmt. Wir müssen schauen, wie wir damit umgehen werden. Schon jetzt gibt es Ausstellungsorte, die Klimaanlagen installiert haben – das gab es vor 20 Jahren nicht. Unseren Festivalzeitraum nach vorne oder nach hinten zu verschieben ist aber nicht so einfach, denn die Orte, die wir nutzen, werden auch von anderen benutzt. Direkt nach unserer Eröffnungswoche findet ein anderes Festival statt, das beispielsweise auch ins Amphitheater geht. Und so sieht der gesamte Sommer aus. Das gilt auch für die zahlreichen Kirchen. Es gibt da einfach nicht sehr viele Möglichkeiten.
Les Rencontres de la Photographie, Arles, 4. Juli bis 26. September, rencontres-arles.com