Anlässlich des 100. Geburtstags von Helmut Newton am 31. Oktober 2020 erzählt Gero von Boehms Dokumentarfilm „Helmut Newton – The Bad And The Beautiful“ nicht nur die Lebensgeschichte des in Berlin geborenen jüdischen Fotografen, sondern wirft dabei einen besonderen Blick auf sein nicht unumstrittenes Oeuvre.
ProfiFoto: Wie haben Sie Helmut Newton kennengelernt?
Gero von Boehm: Getroffen haben wir uns zum ersten Mal bei gemeinsamen Freunden in Paris, das muss etwa 1997 gewesen sein. Wir haben uns damals auf Anhieb verstanden und entdeckten, dass wir einen sehr ähnlichen Humor hatten, den gleichen Sinn für skurrile Situationen. Und ich mochte sofort seine Frau June, vielleicht auch, weil ich – wie Helmut – intelligente und starke Frauen sehr gern habe. Wir haben uns dann ein paarmal in
Monte Carlo gesehen und vor allem auch in Berlin, das er so liebte.
ProfiFoto: Worüber sprachen Sie, wenn Sie sich trafen?
Gero von Boehm: Über alte deutsche Filme, über Musik, über die Novellen von Arthur Schnitzler. In Monte Carlo, wo er wegen der Steuer und des Wetters lebte, haben wir manchmal zusammen Leute beobachtet, dieses teilweise bizarre Publikum dort, und wir haben ein bisschen gelästert. Er war ja ein Voyeur im besten Sinne. In Berlin hat er mir viel erzählt von seiner Jugend in der Stadt, in den 1920er und 1930er Jahren, von seinen Freunden, von der wunderbaren Mode-Fotografin Yva, bei der er gelernt hatte und dann natürlich von der Zeit nach der Machtergreifung durch die Nazis. Wie gefährlich es für ihn als Jude war, wie er sich nachts in Kellern versteckt hat und dann schließlich, im Dezember 1938, einen Monat nach den schrecklichen Pogromen, aus Berlin geflohen ist. Er hat mir den Bahnsteig gezeigt, von dem er den Zug nahm, um auf ein Schiff nach China zu gelangen. Und irgendwann dachte ich natürlich: Über diesen Mann muss man einen Film machen. Dann hat es nochmal eine Weile gedauert, bis ich ihn und vor allem auch June von diesem Projekt überzeugt hatte. Sie war ja äußerst protektiv, und er war eigentlich ein sehr privater Mensch. Aber irgendwann sagten sie: „You have our blessing.“ Dann haben wir in Monte Carlo, in Paris, in Berlin und in Hollywood gedreht, und schließlich kam ein Fernsehporträt für ZDF/Arte „Helmut Newton – mein Leben“ dabei heraus. Aber ich hatte noch viel unveröffentlichtes Material, das jetzt in den Kinofilm eingeflossen ist, ebenso wie Video-Aufnahmen, die June über Jahre von Helmut gemacht hat. Und dann natürlich das große Glück, mit der Helmut Newton Foundation eng zusammenzuarbeiten und über das gesamte Bildarchiv verfügen zu können.
ProfiFoto: Eine Grundidee für den Film war, nur Frauen über ihn erzählen zu lassen. Warum?
Gero von Boehm: Frauen waren Helmuts Lebensthema und sein großes Thema als Fotograf. Er kannte die Frauen wie kaum ein anderer und die Frauen kannten ihn. Deshalb fand ich, dass sie am besten über ihn reden könnten. Ich wollte auch nicht die üblichen Männeranekdoten. Überhaupt: Männer waren für Helmut ja nur Accessoires.
Einige der Protagonistinnen im Film kenne ich selbst seit langer Zeit – zum Beispiel Isabella Rossellini, Charlotte Rampling und Hanna Schygulla, deren Zusagen hatte ich schnell. Und dann kamen wunderbare Frauen wie Grace Jones, Nadja Auermann, Claudia Schiffer, Marianne Faithfull und Anna Wintour dazu. Zum Schluss ging die Rechnung auf: Sie haben alle mit ungeheurer Offenheit von ihren Begegnungen mit Helmut erzählt.
Grace Jones zum Beispiel erinnert sich daran, wie er sie mehrmals einbestellte und immer wieder vergaß, dass sie so kleine Brüste hat und damit keine typische Newton-Frau ist. Jedes Mal schickte er sie nach Hause. Aber schließlich haben sie doch berühmte Fotos zusammen gemacht. Eine sehr lustige Geschichte…
Die große Anna Wintour die als junge Moderedakteurin bei der britischen Vogue ein Shooting in Kalifornien mit Helmut machen sollte, meldete sich einen Tag davor krank, weil sie einfach zu viel Ehrfurcht vor diesem Giganten Newton hatte. Und Charlotte Rampling erzählt, wie sie ihre allerersten Nacktfotos mit Helmut machte, auf dem Schreibtisch in einem Hotelzimmer in Arles. Es waren auch seine ersten Nacktfotos.
Nadja Auermann dagegen wollte sich nicht nackt fotografieren lassen, das hat er ihr übelgenommen.
ProfiFoto: Er hat vor allem die Fotografie der 1970er und 1980er Jahre geprägt, und seine Fotos sind auch heute noch Ikonen. Aber was wird von Helmut Newton für immer bleiben?
Gero von Boehm: Die Unverkennbarkeit seiner Fotos. Das ist allein schon ein Merkmal für Qualität. Bei mir persönlich bleibt für immer das Andenken an einen Freund, bei dem ich bestimmte Eigenschaften besonders schätzte. Er verkörperte eine bestimmte Tradition, gepaart mit Avantgarde. Er hatte Eleganz, er hatte Stil und gleichzeitig war er frech, nahm keine Rücksicht auf political correctness und war im Kopf total jung geblieben. Ich denke oft an ihn, gerade in unserer immer uniformer, uneleganter und prüder werdenden Welt. Leute
wie er sind verdammt selten geworden.
ProfiFoto: Es gibt Stimmen, die sagen, man solle Helmut Newtons Blick auf den weiblichen Körper heute lieber nicht mehr zeigen…
Gero von Boehm: Zensur durch Spießer? Ein Geschmacksdiktat? Um Himmels Willen. Jeder kann von Helmut Newtons Bildern denken und darüber sagen, was er will. Aber sie sind nun mal da. Ich bin grundsätzlich dagegen, die Freiheit der Kunst auch nur im mindesten einzuschränken und auch noch zu vergessen, dass es in der Kunstgeschichte von Anbeginn Nacktheit gegeben hat. Man müsste alle Antikensammlungen wegschließen, viele Cranachs, Caravaggios und Picassos abhängen. Und Helmut Newton zeigt uns doch mit sehr vielen seiner Bilder gerade wie stark und – für manche Männer sicher erschreckend – selbstbewusst Frauen sein können.
© Foto: Pierre Nativel, LUPA FILM, Gero von Boehm und Isabella Rosselini