Die Faustregel „Kehrwert der Brennweite ergibt Verschlusszeit“ gerät bei hochauflösenden Digitalkameras ins Wanken, da deren Aufnahmen schnell Bewegungsunschärfe zeigen. Donat Achermann hat eine Formel entwickelt, mit der sich passend zur Brennweite die längste mögliche Verschlusszeit berechnen lässt.
Obwohl Kamerahersteller laufend empfindlichere Bildsensoren mit geringerem Rauschverhalten auf den Markt bringen, ist Fotografieren oftmals eine Gratwanderung zwischen genügend Restlicht und unbefriedigendem Bildresultat. Wer zu Gunsten einer abgeblendeten Belichtung mit langen Verschlusszeiten arbeitet, riskiert bei freihändigen Aufnahmen ohne Bildstabilisierung verwackelte Bilder.
Die Faustregel zur Ermittlung dieser Freihandgrenze, also der längsten Verschlusszeit, die eine Aufnahme noch ohne Bewegungsunschärfe darstellt, entspricht dem Kehrwert der Brennweite: 50 Millimeter Brennweite ergeben eine Verschlusszeit von 1/50 Sekunde, 80 Millimeter eine Verschlusszeit von 1/80 Sekunden und so weiter.
Für Generationen von Fotografen gehörte diese Faustregel zu den wichtigsten Grundlagen und aktuelle Fachbücher oder Internetbeiträge vermitteln diese weiter. Nur wenigen ist aufgefallen, dass in Zeiten hochaufgelöster Digitalkameras diese Regel gar nicht mehr anwendbar ist. Denn je mehr Pixel ein Sensor hat, umso besser registriert er kleinste Bewegungen. Ein Bild kann aber nur scharf sein, wenn die Bewegung nicht größer als ein einzelner Pixel bleibt. Der eine oder andere hat es sich deshalb zur Praxis gemacht, die Faustregel zu verdoppeln. Eine 50-Millimeter-Brennweite erfordert demnach eine Verschlusszeit von 1/100 Sekunden.
Wie lang ist schnell genug?
Doch reicht diese Verdoppelung? Müssten es nicht noch kürzere Verschlusszeiten sein, oder wie verhält sich diese Regel mit zukünftigen, noch höher auflösenden Kameras?
Um eine allgemeingültige Regel zu erhalten, muss man erst die analoge Belichtung auf Film näher betrachten. Die größte Bewegung durfte auf dem Film nicht grösser sein, als die Filmauflösung, beziehungsweise sein Korn. Nun lässt sich aber Filmauflösung mit digitaler Auflösung nicht direkt vergleichen.
Die Herstellerangaben eines gut-auflösenden Diafilmes ergeben zwar rein rechnerisch Werte bis 22 Millionen Pixel, was durchaus einer heutigen Digitalkamera entspricht. Aber dennoch wird auf Digitalaufnahmen eine Bewegungsunschärfe sichtbar. Solch hohe Filmauflösungen kamen mit dem unregelmäßigen Korn bei Kleinbildfilmen gar nicht zur Geltung, wie wir das heute mit digitalen Sensoren gewohnt sind. Die geringere Schärfeleistung der damaligen Kleinbildobjektive trug ein Weiteres dazu bei.
Somit zählt also der rein objektive Vergleich, welcher digitalen Kameraauflösung ein analoger Film entspricht. Und diese muss bei durchschnittlich fünf Millionen Pixeln liegen. Bei höherer Auflösung hätte zwangsläufig die Faustregel zur Freihandgrenze all die Jahre versagt, was sie bei hochaufgelösten Diafilmen mit umgerechnet um die acht Millionen Pixeln auch tat.
Freihandfaktor ermitteln
Mit der Erkenntnis, dass die Grundauflösung eines Analogfilms einer Digitalkamera mit fünf Millionen Pixeln entspricht, ließ sich die folgende Freihandformel errechnen:
Derselbe Faktor gilt für alle an diese Kamera angeschlossenen Brennweiten. Für andere Kameramodelle, egal ob Kleinbild- oder Mittelformatkameras, muss der jeweilige Freihandfaktor separat berechnet werden. Einen Überblick gibt die Tabelle 1.
Aus dieser Auflistung lassen sich ein paar interessante Feststellungen herauslesen. Die Nikon D1 war die einzige Digitalkamera, bei der die klassische Faustregel noch anwendbar war.
Bereits beim Nachfolgemodell D2x hätte mit einem Freihandfaktor von mehr als der doppelten Brennweite gearbeitet werden müssen. Der technische Sprung auf den Vollformatsensor bei gleichbleibender Auflösung verringerte die Problematik vorübergehend (D3s mit Freihandfaktor 1.556), verschärfte sich dann aber bei jüngeren Kameramodellen wieder zügig.
Spätesten seit der Einführung höchstauflösender Kleinbildkameras (Nikon D850, Canon EOS 5Ds) stieg der Freihandfaktor sprunghaft auf mehr als das Dreifache an. Darüber waren und sind sich die wenigsten Fotografen bewusst. Die gleiche Tatsache tritt im Übrigen auch bei Mittelformatsystemen mit 50 bis über 100 Millionen Pixeln auf. Hinzu kommt, dass diese Systeme nicht in allen Fällen mit Bildstabilisatoren ausgerüstet sind.
Kameras mit deutlich kleinerem Sensor ergeben auf den ersten Blick erschreckende Freihandfaktoren vom Fünf- bis Siebenfachen. Der sensorspezifische Formatfaktor (Crop Factor) relativiert diese Werte allerdings wieder. So entspricht die maximale Telebrennweite 42,6 mm der Nikon P7800 knapp einer 200-Millimeter-Brennweite im Kleinbildformat. Die errechnete Freihandgrenze liegt dann bei einer vertretbaren 1/320 Sekunde.
Die Zusammenstellung zeigt, dass sich möglichst große Pixel positiv auf den Freihandfaktor auswirken und dieser geringer wird. Dies stimmt jedoch nur bei gleichen Sensorgrößen.
Eine vollformatige Nikon D850 mit 4,35 µm großen Pixeln erfordert bei 60 Millimetern Brennweite eine Verschlusszeit von 1/182 (also 1/200 Sekunden). Demgegenüber macht eine Nikon P7800 bei 13,3 mm Brennweite (äquivalent mit 60 mm Vollformat) mit ihren deutlich kleineren Pixeln von 1,88 µm eine 1/93 (also nur 1/100 Sekunde). Die Pixelgröße muss somit um den Formatfaktor (Crop Factor) multipliziert werden, um nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Vergleicht man letztlich die Werte mit analogen Auflösungen, stellt man fest, dass für Negativaufnahmen sogar leicht längere Verschlusszeiten möglich gewesen wären, selbst wenn man mit den damals üblichen Halbblendenwerten gerundet hätte. Im Gegenzug hätte man bei einer hochauflösenden Diaaufnahme stets eine halbe Blende kürzer belichten müssen.
Für einen Annäherungswert lässt sich die Berechnung auch mit einer vereinfachten Formel ausführen. Die Formel ist allerdings nur für das Kleinbildformat mit 24 x 36 mm großen Sensoren anwendbar und weicht um wenige Dezimalstellen von der effektiven Berechnung ab. Da die erhaltene Verschlusszeit aber ohnehin auf die nächsthöhere Drittelblende gerundet werden muss, führt die Formel bis auf wenige Grenzfälle zu den gleichen Resultaten.
Theorie und Praxis
Parallel zur Entwicklung dieser Freihandformel wurden acht verschiedene Kameramodelle getestet. Diese Testreihe hatte zum einen das Ziel, die sensorspezifische Freihandgrenze der Kameras zu ermitteln, andererseits sollten diese Resultate die mathematische Formel bestätigen.
Analysiert wurden die Nikon-Vollformatmodelle D3s, D3x, D4, D5, D850 sowie die D2x mit kleinerem DX-Sensor mit den Brennweiten 24, 50, 70, 85, 200 und 400 Millimeter. Die Mittelformatkamera Hasselblad X1D II 50c mit den Brennweiten 45, 65, 90 und 135 Millimeter wurde ebenso getestet, wie die kleinformatige Systemkamera Nikon Coolpix P7100 mit den Brennweiteneinstellungen 6, 13 und 42,6 Millimeter. Die Testbilder wurden mit ausgeschalteter Bildstabilisierung aufgenommen.
Für jede Brennweite wurden Verschlusszeitenreihen belichtet, die von längeren Zeiten als dem Kehrwert bis hin zum Vierfachen dieses Wertes gewählt wurden (bei 200 mm Brennweite also 1/160 bis 1/800 Sekunden in Drittelblendenschritten). Mit jeder Verschlusszeit wurden mehrere Bilder geschossen, um allfällige Bewegungsausreißer herausfiltern zu können.
Auf Basis dieser Belichtungsreihen wurden die minimal nötigen Verschlusszeiten bestimmt, die eine Bewegungsunschärfe verhinderten und durch die jeweilige Brennweite dividiert. Die so gemessenen Freihandfaktoren wurden anschließend den mathematisch errechneten Faktoren gegenübergestellt. Alle gemessenen Werte weichen kaum von den berechneten Faktoren ab. Die knappen Differenzen sind auf die Abstufungen der einstellbaren Drittelblenden zurückzuführen (siehe Tabelle 2, S. 69).
Während der Testbelichtungen wurden auch zusätzliche Aufnahmen mit eingeschalteter Objektiv-Bildstabilisierung fotografiert. Die Erkenntnis daraus war, dass die, im offiziellen CIPA-Standard pro Objektiv angegebenen Blendenstufen nicht zuverlässig erreicht wurden. Vor allem aber konnte festgestellt werden, dass bei einigen Objektiven und kurzen Verschlusszeiten die Bildstabilisierung der Schärfe mehr schadet als nützt. Vor allem bei 400 mm Brennweite und den berechneten Freihandgrenzen von 1/640 bis 1/1250 Sekunden wurden ohne Bildstabilisierung ausnahmslos bessere Resultate erzielt. Scharfe Aufnahmen gelingen demnach innerhalb der Freihandgrenze zuverlässiger mit abgeschalteter Stabilisierung. Entscheidet sich ein Fotograf den-noch, seine Verschlusszeit mithilfe des Bildstabilisierungssystems zu verlängern, sollte er die Blendenschritte immer von der errechneten Freigrenze abziehen und nicht vom reinen Kehrwert der Brennweite.
Eine ruhige Hand
Die Hersteller streben laufend Kameras mit noch höherer Sensorauflösung an. Die Objektivhersteller machen mit immer mehr Aufwand diese Auflösung abbildbar. Umso wichtiger ist das Bewusstsein, wie man sein Motiv tatsächlich scharf auf den Sensor bringt. Unschärfe fällt oftmals mehr auf als exakte Schärfe. Erst recht in einer Zeit, in der jeder gewohnt ist, am Bildschirm Bilder in mikroskopischer Vergrößerung zu betrachten.
Die alte Faustregel «Kehrwert der Brennweite ergibt Verschlusszeit» hält sich wacker in den Lehrbüchern und unter Fotografen. Sie hilft aber nicht, weil sie in der digitalen Fotografie falsch ist. Zunehmend höhere Auflösung hat zwar den Vorteil, mehr Details und Brillanz abzubilden, die Fehler im Bild werden dadurch allerdings auch sichtbarer.
Was sich gegenüber früher nicht geändert hat, ist die Tatsache, dass der Fotograf eine ruhige Hand braucht. Die Freihandformel funktioniert für den Durchschnittsverwackler, genauso wie das die analoge Faustregel ehedem tat. Einem geübten Fotografen können selbstverständlich auch Bilder mit längerer Verschlusszeit gelingen.
Donat Achermann ist als Major der Schweizer Armee für die Bordfotografie verantwortlich. „In unserer Arbeit als Luftbildfotografen der Schweizer Luftwaffe sind wir häufig mit knappen Lichtverhältnissen konfrontiert und versuchen den Spagat zwischen langen Brennweiten und unverwackelten Bildern zu bewältigen“, so der Spezialist. „Hohe ISO-Empfindlichkeiten helfen nur beschränkt. Somit habe ich mich die letzten Jahre dem Thema Freihandgrenze angenommen und einen Weg gesucht, die althergebrachte Faustregel auf Digitalkameras zu applizieren.“
Die Luftaufklärung ist für alle fotografischen Belange aus der Luft zuständig; Aufklärungsfotos, aber auch dokumentarische Bilder von Flugzeugen und Infrastruktur sowie Bilder für die Öffentlichkeitsarbeit gehören zu Achermanns Aufgabengebiet. „Als Bereichsleiter für Luftbildfotografie versuche ich meinen Bordfotografen optimalste Voraussetzung für ihre fliegerische und fotografische Tätigkeit zu schaffen. Viele Stunden verbringe ich selbst mit der Kamera im Flugzeug“, so Berufsflieger bei der Luftwaffe, der zuvor mehrere Jahre als Art Director in Werbeagenturen tätig war.