Über das Thema Sichtbarkeit für Fotografen habe ich schon berichtet. Fragen, wie beispielsweise, welche Fotografen-Plattform eignet sich für meine Arbeit, welche Social-Media-Kanäle soll ich nutzen oder ist eine Mitgliedschaft in einem Berufsfotografenverband für mich sinnvoll, bespreche ich oft mit Fotografinnen und Fotografen. Und nicht jede oder jeder hat Lust, regelmäßig Zeit und Energie in die Selbstvermarktung und die eigene Sichtbarkeit zu investieren. Doch gerade habe ich den Eindruck, hat sich die Haltung vieler Fotografen zu und das Interesse an Sichtbarkeit stark verändert. Während die einen (immer) noch mit Instagram hadern und die jährliche Weihnachtskarte an ihre Kunden als ausreichendes Selbstmarketing einstufen, produzieren andere, eindeutig motiviert und inspiriert durch die Corona-Krise, unglaubliche Selbstporträts und beeindruckende Fotoarbeiten.
Mir kommt es fast so vor, als ob es in Bezug auf die Sichtbarkeit von Fotografen und ihren Arbeiten eine Zeitrechnung vor Corona und eine mit Corona gibt. Denn heute, in der 12. Woche nach dem Inkrafttreten der damaligen Beschränkungen, die aktuell gelockert sind, können wir leider noch nicht davon sprechen, dass Corona vorüber ist. Fast seit Beginn dieser alles verändernden Krise sehe ich fortlaufend Bilder von Fotografinnen und Fotografen und ihren Corona-assoziierten Fotoprojekten. Das begeistert mich. Selbst Fotografen, die vor Corona nicht mal ein Porträt von sich auf ihrer Website hatten, nutzen die Krisenzeit für die „neue Sichtbarkeit“ ihrer Arbeit. Sie haben ein ausdrucksstarkes oder witziges Selbstporträt produziert und viele von ihnen haben dazu freie Arbeiten, inspiriert von Corona und den damit einhergehenden Einschränkungen und Unsicherheiten, konzipiert und umgesetzt. Mittlerweile werden viele dieser Arbeiten, in zum Teil neu geschaffenen Digital- und Online-Galerien ausgestellt, wie beispielsweise auf der Berliner Website Stayhome.photography. Sie zeigt weltweite fotografische Konversationen zwischen jeweils zwei Fotografen in Selbstisolation, die paarweise dort ausgestellt sind.
Oder der BFF-Blog „Out oft the Blue“ unter bff.de. Fotografinnen und Fotografen, deren Arbeit sich vorwiegend in dem Bereich der werblichen Auftragsfotografe bewegt, zeigen einen Ausschnitt aus ihrem Portfolio und geben in einem kurzen Interview Einblick in ihren persönlichen Corona- Alltag, abgerundet mit einem eigenwillig inszenierten Selbstporträt, wie beispielsweise die wunderbare Serie von Stefan Hobmaier.
Daneben fallen weitere interessante und bemerkenswerte Corona-Projekte auf, die „neue Sichtbarkeit“ für die Fotografen schaffen, wie zum Beispiel der Hamburger blog.fotogloria mit den internationalen #FacesOfPhotography. Auch bedingt durch die Krise sind die campus.editionen entstanden, eine in Hamburg gegründete Online-Plattform für Fine Art Prints von Fotografen und Illustratoren, die den Kreativen alternative Präsentations- und Einnahmemöglichkeiten verschafft. Und es gibt noch viele weitere engagierte und ambitionierte Projekte, die den Künstlern und Kreativen helfen, sich in Zeiten, ohne Jobs und mit unklaren Aussichten zu präsentieren.
Durch die „neue Sichtbarkeit“ der Fotografinnen und Fotografen entsteht ein persönliches und vertrautes Gefühl zu einer eigentlich fremden Person. So, als würde man sich vom Sehen kennen. Mir geht es jedenfalls so, dass ich durch die Selbstporträts und Inszenierungen das Gefühl habe, die Person ein Stück weit (besser) kennenzulernen. Denn viele dieser Arbeiten haben einen sehr persönlichen Hintergrund und geben Einblick in die eigene Gedanken- oder Gefühlswelt. Manche sind sehr lustig, andere verblüffend oder ernst. Corona holt die Fotografen quasi aus der Deckung und bringt sie dazu, sich zu zeigen. Und das weltweit mit der universalen Sprache der Bilder.
Die Wirkung dieser Fotografie-Offensive auf Redakteure, Fotografie-Experten oder Auftraggeber wird sicher nicht ausbleiben. Sie alle verfolgen die Projekte, nicht nur berufsbedingt, sondern auch aus persönlichem Interesse, denn die „neue Sichtbarkeit“ macht neugierig und führt dazu, dass ein besseres Bild von den Fotografinnen und Fotografen entsteht und sowohl Motivation als auch persönliche Haltung durchblitzen. Und vielleicht haben nun auch endlich alle Fotografen mal ein Porträt von sich auf ihrer Website.
Und – kennen wir uns vom Sehen?
Silke Güldner unterstützt Fotografinnen und Fotografen dabei, ihre Begeisterung, ihre Ideen und ihre Kompetenz in diesem Beruf zu kommunizieren und zu präsentieren.