Sue Barr (Jahrgang 1971) ist Professorin für Fotografie an der Architectural Association School of Architecture in London und beschäftigt sich seit Jahren mit brutalistischer Architektur. Für ihr Projekt „The Architecture of Transit“ hat sie Autobahnen zwischen den Alpen und Neapel mit ihrer Großformatkamera fotografiert und dabei Perspektiven eingenommen, die den meisten von uns verborgen bleiben: Ganz im Sinne der New Topographic-Bewegung zeigt sie uns die Straßen, Brücken und Tunnel innerhalb einer durch den Menschen veränderten Landschaft.
ProfiFoto: Du bist keine Architektin, aber du unterrichtest Architekturstudenten in Fotografie. Ich wusste nicht, dass Fotografie ein wichtiger Teil des Architekturstudiums ist.
Sue Barr: Doch, das ist sie. Naja, ich meine, ich hoffe, dass ich es zu einem wichtigen Teil des Studiums mache (lacht), denn Fotografie und Architektur haben eine sehr enge Verbindung und Fotografie ist für Architekten von sehr großer Bedeutung: Du baust ein Gebäude und gibst es dann an deinen Auftraggeber und alles, was du als Architekt dann noch hast, ist eine Fotografie. Ich unterrichte alle möglichen Arten von Fotografie, aber es geht meist um einen urbanen Kontext.
Ich war ein wenig verwirrt, weil dein Buch heißt „The Architecture of Transit“ und auch deine Website heißt so, aber unter dem Titel verbergen sich noch viel mehr Projekte.
Der Grund ist, dass ich den Titel sehr mochte und ich nicht sehr viel über die Korrektheit nachgedacht habe. Aber all meine Arbeiten beschäftigen sich mit diesem Thema. Ich habe ein Projekt über Parkhäuser und den Lincoln Highway in den USA gemacht und mache ein neues Projekt über Brutalismus in Stuttgart. Es geht bei mir immer um Architektur im weitesten Sinne. Aber eben auch um den Aspekt des Transits, also immer um Gebäude, Straßen und Brücken, die selbst keine Aufenthaltsqualität haben, sondern die nur dazu dienen, den Ort, auf dem sie sich befinden, sofort wieder zu verlassen. Gleichzeitig sind diese Architekturen für die Menschen, die direkt neben ihnen leben und arbeiten, sehr präsent.
Wie ist deine Beziehung zu Architektur und wie unterrichtest du Architekturfotografie? Ich frage, weil es in der Architektur ja fast immer auch um Ästhetik geht, aber in deiner Fotografie legst du den Finger in die Wunde und sagst: „Na, das ist aber jetzt nicht besonders schön geworden.“
Was mich wirklich sehr interessiert ist der Raum. Natürlich interessiert mich Architektur, aber vor allem interessiert mich, wie Architektur den Raum wahrnimmt, definiert und einschränkt. In meinem Buch geht es um die Nähe von Gebäuden und Menschen – selbst, wenn wir gar keine Menschen in den Fotos sehen, aber wir sehen, wie sie leben. Es geht darum, wie Architektur den Raum einrahmt und definiert. Aber auch um die Stellen, an denen sie sich kreuzen. Das ist jetzt eher technisch, aber mich interessieren auch Erhöhungen und Kreuzungsbereiche, Brücken und Mauern. Und all das ist nicht notwendigerweise mit Schönheit verbunden.
Im Einleitungstext zu deinem Buch geht es darum, wie früher Landkarten aussahen und dass man sich an Bergen und Flüssen orientiert hat. Wenn man sich heute Google Maps anschaut und vom Kartenmodus in den Satellitenmodus wechselt und die Straßen ausblendet, fehlt mir sofort die Orientierung. Unser Orientierungssinn richtet sich nicht länger an der Landschaft mit Bergen, Tälern und Flüssen aus, sondern an Straßen, Brücken und Tunneln.
Ja, wir orientieren uns am Beton.
Und da gibt es diesen Gegensatz zwischen der Architektur, an die wir für gewöhnlich denken, und der Architektur, mit der wir leben und die wir üblicherweise nutzen.
Genau um diese merkwürdige Realität geht es mir. Diese Orte existieren scheinbar gar nicht, es sind Nicht-Räume. Stell dir vor, es wäre Januar und du fährst über diese Autostrada. Du fährst über eine Brücke und durch einen Tunnel und wieder über eine Brücke und durch den nächsten Tunnel. Es ist ein eigener Rhythmus, wie ein Computerspiel. Weil es keine Möglichkeit gibt, diese Straße von ihr selbst aus zu fotografieren oder auch einfach nur anzuhalten, weil sie dafür nicht gedacht ist, ist es fast so, als würde sie nicht existieren: Du nimmst sie nur im Vorbeifahren wahr. Genau das war mein Ziel: Ich wollte etwas festhalten, was man eigentlich gar nicht richtig sehen kann, das quasi unsichtbar ist, weil wir es ignorieren.
Auf einem Foto kann eine Straße aber auch einen romantischen, fast mystischen Aspekt haben. Eine Straße kommt von irgendwo her und führt irgendwo hin. Sie lässt vieles im Unklaren. Eine Straße kann auf einem Foto eine Landschaft zerstören, aber sie kann sie auch interessant machen. Warum bist du so sehr an dem Thema interessiert?
Ich glaube, ich bin nicht so sehr an dem Aspekt der Umwelt interessiert, was schrecklich ist zu sagen, ich weiß (lacht), denn wir sollten uns alle für Umweltschutz interessieren. Aber darum geht es mir nicht. Ich bin wirklich besessen von Architektur und wie wir sie ignorieren, wenn sie über uns ist oder wenn wir auf ihr sind. Natürlich gibt es diesen sofortigen Reflex auf unsere motorisierte Welt, dass Autos schlecht für die Umwelt sind und Straßen die Landschaft zerstören und so. Aber so einfach ist es nun einmal nicht. Wir brauchen diese Art der Infrastruktur und diese Art des Reisens, egal, ob es eine Brücke für einen Zug oder für ein Auto ist. Das Buch „The Architecture of Transit“ ist Teil meiner Doktorarbeit und die Bilder entspringen meinem Ansatz, der sich darauf stützt, dass die großen Verbindungsstraßen ihre Wurzeln in der sogenannten Grand Tour des 18. Jahrhunderts haben, als die Söhne des europäischen Adels durch Mittel- und Südeuropa reisten. Besonders in England wurde es zu einer richtigen Mode, nach der Ausbildung nach Paris, Florenz, Rom und Neapel zu reisen, seinen Horizont zu erweitern und sich die Baudenkmäler aus der Antike, dem Mittelalter und der Renaissance anzuschauen, die als Erhaben galten. Meine Bilder sind aus der Idee heraus entstanden, nach dem Erhabenen zu suchen, aber auf dem Weg dorthin etwas anderes zu finden.
1975 gab es die legendäre Fotoausstellung „New Topographics“, die uns plötzlich Landschaften zeigte, die von Menschen verändert wurden. Wie wichtig ist die New Topographic-Bewegung für dich?
Natürlich sehe ich meine Arbeit auch in der Tradition der New Topographics. Aber der Unterschied ist, dass die Farbe in meinen Fotos sehr sehr wichtig ist, ich feiere die Farbe geradezu. Von allen Fotografen der New Topographic-Ausstellung war Stephen Shore der einzige, der in Farbe fotografiert hatte. Natürlich ging es damals gar nicht so sehr um die Frage Schwarzweiß versus Farbe, es war eher eine konzeptionelle Positionierung. Einige der damaligen Arbeiten wirken auf mich sehr wie typische deutsche Kunstfotografie. Wir müssen nur an die Fotografien von Bernd und Hilla Becher denken. Ich liebe diese Arbeiten, aber auf der anderen Seite sind sie für mich zu sehr wie Porträtfotografien von Objekten, die den Kontext um sie herum ausblenden. Ich wollte eine Arbeit machen, die mehr die Intensität der architektonischen Raumerfahrung an bestimmten Orten würdigt. Manche Positionen der New Topographic-Künstler sind mir da etwas zu distanziert und fast schon an der Grenze zur Ironie. Die Arbeiten von Lewis Baltz und Frank Gohlke mag ich wirklich sehr. Aber für meine eigene Arbeit am meisten inspiriert hat mich eigentlich Timothy O’Sullivan.
Der den amerikanischen Bürgerkrieg fotografiert hat?
Genau. Aber er hat ja noch viel mehr fotografiert und war auch bei Regierungsexpeditionen durch die USA als Landschaftsfotograf dabei. Wie sensibel, neugierig und abenteuerlustig er diese Landschaften entdeckt und fotografiert hat, hat mich sehr inspiriert und in seinem Geist wollte ich arbeiten und die Landschaft neu sehen.
Einige deiner Bilder finde ich fast schon brutal und sie können schmerzen. Und ich meine nicht nur dein Foto vom Polcevera-Viadukt in Genua, der 2018 eingestürzt ist und 43 Menschen in den Tod riss. Auch in anderen Fotos frage ich mich: Wie können Menschen dort, so eingeklemmt zwischen dem Beton, eigentlich leben? Bemerkenswert ist in deinen Fotos auch, dass du uns die Straßen niemals aus der Perspektive zeigst, aus der wir sie normalerweise wahrnehmen, nämlich von der Straße selbst aus. Du bist immer an Stellen, die den Autofahrern in der Regel verborgen bleiben.
Ich wollte in meiner Arbeit die Straße als Teil unserer Architektur zeigen anstatt mich auf ihr zu bewegen und sie damit zu zeigen, wie wir sie ohnehin kennen. Auf einer Autostrada anzuhalten und sie zu fotografieren ist schwer bis unmöglich, aber auch die Positionen, die ich zum Fotografieren ausgesucht habe, waren teilweise sehr schwer zu erreichen, ich musste weit laufen, über Zäune klettern und so. Und tatsächlich gab es auch Orte, die ich schlichtweg nicht erreicht habe und von denen es keine Fotos gibt. Ich habe sieben Jahre an dem Projekt gearbeitet, fahre über die Autobahn, sehe einen Ort, der mich interessiert und versuche dann die nächste Ausfahrt zu nehmen und den Ort mit Google Maps und Landkarten wiederzufinden und dann zu erreichen. Manchmal war es wie Detektivarbeit.
Die Fotos im Buch wirken wie eine Reise entlang der Autostrada, aber die Reihenfolge ist fiktiv.
Ja, das Buch fängt mit einer fast epischen Landschaft an, in der die Straße nur am Rande auftaucht. Im Laufe der Buches wächst die Straße und wird mächtiger, bis sie schließlich die Stadt erreicht und sie durchquert und dabei scheinbar keine Rücksicht nimmt auf die Begebenheiten und die Häuser in der Stadt. Niemand hält diese Straße auf. Schließlich endet das Buch mit dem Gefühl, dass die Stadt von der Straße übernommen und sie wie zu einem Dach wird, das über allem herrscht und dem sich schließlich auch die Natur unterordnen muss.
Du hast nur Autobahnen in Italien und der Schweiz fotografiert, nicht aber in Deutschland. Dabei verbindet man doch vor allem Deutschland mit der Autobahn. Warum sind die Autobahnen hier nicht interessant für dich?
Ich wollte schon die Umgebung dieser besonderen Strecke von den Alpen bis nach Neapel als Feldforschung haben, auch wegen des Bezugs zur Grand Tour. Hinzu kommt, dass die erste Autobahn 1924 in Italien eröffnet wurde und nicht in Deutschland und dieser Bezug passte natürlich auch sehr gut.
In einem anderen Projekt hast du dich dem Lincoln Highway gewidmet, was auch eine sehr symbolträchtige Straße ist.
Ja, sie war die erste durchgehende, gepflasterte Straße, die die amerikanische Ostküste mit der Westküste verband. Sie ging vom Times Square in New York bis zum Lincoln Park in San Francisco. Vorher gab es zwar den Pony Express, aber das war nur ein Postbeförderungsdienst und es gab keine befestigte Straße. Der Lincoln Highway hatte einen hohen symbolischen, aber auch politischen und wirtschaftlichen Wert und viele Städte versprachen sich sehr viel davon, als plötzlich die Straße an ihnen vorbei führte.
Heute wird schnell kritisiert und demonstriert, wenn neue Verbindungsstraßen gebaut werden, aber wir vergessen schnell die Bedeutung, die Straßen zu jener Zeit hatten.
Es veränderte alles radikal. Die Straßen brachten Geld, Unternehmen und Kommerz in die abgeschiedenen Orte. Und der Lincoln Highway ist bis heute fantastisch anzusehen. Teile sind bis heute aus Ziegelsteinen und es gibt Stellen im Beton, in dem die Ingenieure ihre Namen eingelassen haben, weil sie so stolz darauf waren, diese Straße gebaut zu haben. Mit diesem Projekt wurde mein Interesse geweckt für diese riesigen Maßstäbe: Der Lincoln Highway verbindet wortwörtlich den Osten mit dem Westen der USA und die Autostrada verbindet zumindest konzeptionell den Norden Europas mit dem Süden.
„The Architecture of Transit“ ist bei Hartmann Books erschienen, hat 96 Seiten und kostet 34 Euro.
www.architectureoftransit.com
Alle Fotos: „The Architecture of Transit“, © Sue Barr