Der Brasilianer Sebastião Salgado zählt zu den bekanntesten Fotografen der Gegenwart. Über Jahrzehnte hinweg hat er sich mit sozialdokumentarischen Serien über Minenarbeiter, Flüchtlinge, die brennenden Ölfelder in Kuwait und den Balkan-Krieg einen Namen gemacht. Mit „Genesis“, das für viele sein Opus Magnum ist, wendete er sich schließlich der Natur zu. Im vergangenen Jahr wurde der Autodidakt als erster Fotograf überhaupt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In der Kölner Galerie Bene Taschen* ist nun seine frühe Arbeit „Gold“ zu sehen.
ProfiFoto: Sebastião Salgado, es ist mir eine große Ehre Sie zum Interview zu treffen.
Sebastião Salgado: Mich freut es auch. Sie müssen aber etwas näher an mich heranrücken, weil ich etwas schwerhörig bin.
ProfiFoto: Ja, das erwähnten sie einmal in einem Interview. Was ist passiert?
Sebastião Salgado: Das war in Kuweit, als ich mehr als 30 Tage lang die brennenden Ölfelder fotografiert habe. Es war ein so unglaublicher Lärm dort, dass mein Gehör dauerhaft geschädigt wurde.
ProfiFoto: Gab es noch weitere Ursachen?
Sebastião Salgado: Es gibt viele Gründe, aber als ich an „Genesis“ gearbeitet habe, war ich im Süden des Sudan unterwegs. Ich fotografierte gerade und jemand hielt zum Spaß seine Kalaschnikow direkt neben meinen Kopf und drückte ab. Das heiße Pulver verbrannte mich an der Wange und der Knall war so laut, dass ich kurzzeitig meinen Gleichgewichtssinn verlor und nicht in der Lage war aufzustehen. Ich musste mich erst einmal an einen Baum lehnen. Seitdem habe ich auch einen Tinitus.
ProfiFoto: Und das nur, weil sich der Kerl einen schlechten Spaß erlaubt hat?
Sebastião Salgado: Ja. Aber wissen Sie, ich habe mir schon so oft etwas gebrochen. Vor zwei Jahren war ich in Brasilien mit einem Stamm unterwegs und sie haben Bäume geschlagen. Ein Splitter hat mich dabei genau zwischen meinem Auge und meiner Nase erwischt und ist einen halben Zentimeter tief stecken geblieben. Wenige Millimeter weiter nach rechts und ich hätte mein Auge verloren.
(Sebastião Salgado holt sein Smartphone heraus und zeigt mir ein Foto dieser Verletzung – natürlich in seinem typischen Schwarz-Weiß-Stil)
ProfiFoto: Fragen Sie sich in solchen Momenten nicht, was das alles eigentlich soll?
Sebastião Salgado: Ach, das gehört nun einmal zu meinem Job dazu. Ich habe es mir ja ausgesucht, niemand zwingt mich dazu.
ProfiFoto: Sie haben jahrzehntelang sozialdokumentarische Reportagen gemacht, in denen der Mensch, sein Handeln und sein Leiden im Mittelpunkt standen. Mit „Genesis“ haben Sie plötzlich etwas ganz anderes gemacht und Landschaften und unberührte Natur fotografiert. Mich hat das an Edward Steichen erinnert, der 1955 für das MoMa die Ausstellung „The Family of Man“ kuratierte. Er war frustriert, dass in seinen zahlreichen Ausstellungen mit Kriegsfotografien die Leute zwar betroffen wirkten, aber offensichtlich nichts aus den Ausstellungen lernten. Deshalb entschied er sich, in der „Family of Man“ nicht das zu zeigen, was die Menschen trennt, sondern was sie gemeinsam haben und so für ein Gemeinschaftsgefühl zu sorgen. War das auch Ihre Absicht?
Sebastião Salgado: Ich hatte da nicht so eine deutliche Intention. Außerdem hat Steichen ja auch die Fotos anderer Fotografen zusammengetragen und nicht seine eigenen. Bei meinen Projekten bin ich immer sehr involviert. Ich bin mit den Menschen zusammen. Ich wohne bei ihnen, ich schlafe bei ihnen, ich esse mit ihnen. Ich bin diese Holzleitern, die in dieses tiefe Erdloch hinab führen, jeden Tag zehn Mal runter und wieder rauf geklettert und habe dort von morgens bis abends fotografiert. Ich habe das aber nicht mit irgendeiner Absicht gemacht, sondern weil ich einfach das Bedürfnis hatte.
ProfiFoto: Aber was war Ihr Bedürfnis, dass Sie Ihre fotografische Strategie so stark geändert haben und den Menschen mit ihren Konflikten und ihrem Leiden den Rücken zugewandt und sich mit der Natur beschäftigt haben?
Sebastião Salgado: Ich habe ein Buch mit dem Titel „Exodus“ gemacht und darin Flüchtlinge auf der ganzen Welt fotografiert. Ich war im Jugoslawienkrieg und habe mitbekommen, wie brutal, hasserfüllt und vollkommen respektlos die Menschen miteinander umgegangen sind. Es war extrem gewalttätig, dabei befanden wir uns in einem reichen, europäischen Land mit gebildeten und wohlhabenden Menschen. Jeder hatte ein Haus, jeder hatte ein Auto, jeder hatte einen Fernseher. Danach habe ich den Genozid in Ruanda miterlebt und es war exakt das gleiche. Auch hier wurde der Mensch wieder zu dem selben gewalttätigen, brutalen Tier und ich sah 15.000 Menschen sterben. Das hat mich verändert. Ich wurde krank, körperlich wie seelisch. Ich brauchte eine Auszeit und verbrachte drei Monate am Meer. Es war die Zeit als meine Eltern alt wurden und uns ihre Farm überließen. Die war in einem katastrophalen Zustand. Es gab keine Bäume mehr, keinen Wasserfall, keine Tiere. Alles war ausgetrocknet. Die Farm war noch kranker als ich. Da hatte meine Frau die Idee: „Warum pflanzen wir nicht einen neuen Regenwald?“ Und das taten wir auch. Wir sahen, wie die Bäume wuchsen und das Leben zurückkehrte. Das hat in mir den Wunsch entfacht, mir nach all dem Leid und all den Kämpfen, die ich gesehen und fotografiert habe, unseren Planeten anzusehen. Ich wollte nicht noch mehr Zerstörung und noch mehr Gewalt sehen. Acht Jahre lang habe ich das gemacht, daraus ist dann schließlich „Genesis“ geworden.
ProfiFoto: Worauf sind Sie mehr stolz: Auf Ihre fotografische Arbeit oder dass Sie einen ganzen Wald gepflanzt haben?
Sebastião Salgado: Beides ist in beiden vorhanden, für mich hängt beides miteinander direkt zusammen und mit meinen Fotografien finanziere ich den Wiederaufbau der Natur.
ProfiFoto: Gerade in der heutigen Zeit, in der viel über den Klimawandel und Aufforstung gesprochen wird, können Sie ein Symbol sein.
Sebastião Salgado: Ein Symbol ist nicht von Bedeutung. Und es ist auch gefährlich. Manchmal wird man zu einem Vorbild erklärt und dann merken die Menschen, dass du eigentlich ein Mistkerl bist und dein Vorbild ist für immer zerstört. Ich glaube aber auch, dass unsere Gesellschaft zu divers ist, um nach einem gemeinsamen Vorbild zu streben.
ProfiFoto: In der Fotografie geht es immer auch um Schönheit und Ästhetik. Auch, wenn Sie einen Krieg, Zerstörung und Leiden zeigen, sind viele Ihrer Bilder auch schön. Wie wichtig ist es für Sie, die Aufmerksamkeit der Menschen zu bekommen ohne jedoch in Klischees und Kitsch abzurutschen?
Sebastião Salgado: Alles kann ein Klischee sein. Es hängt von Ihrem Moralsystem ab. Wir haben eine sehr statische fotografische Sprache: Wir haben einen Rahmen, wir haben Licht, wir haben eine Komposition und bringen das alles im Bruchteil einer Sekunde zusammen. Aber jeder fotografiert aus seiner eigenen Herkunft heraus, mit seiner eigenen Erfahrung, mit seinen Interessen und seinen Ideologien. Das Ergebnis ist das, was man fühlt. Es gibt keine Objektivität in der Fotografie.
ProfiFoto: Ist es heute einfacher oder schwerer, andere Menschen mit seinen Fotos zu erreichen als früher?
Sebastião Salgado: Für mich ist es heute wahrscheinlich einfacher, denn die Leute kennen mich besser als vor 20 oder 40 Jahren. Ich glaube aber nicht, dass es ein Problem einer Bilderflut gibt, denn das ist alles keine Fotografie. Fotografie ist Erinnerung. Es ist das repräsentative Abbild eines Moments. Was in diesen kleinen Telefonen passiert, die wir immer mit uns herum tragen, ist eine neue Sprache. Wir kommunizieren mit diesen Bildern, sagen einander „Hallo“ mit ihnen, aber sie haben keine Bedeutung mehr. Wenn jemand sein Smartphone verliert, kümmert es ihn nicht. Das hat nichts mit der Fotografie zu tun, wie wir sie kennen. Fotografien erzählen Geschichten, man teilt mit ihnen Erinnerungen, klebt sie in ein Fotoalbum und schaut sie sich mit seinen Eltern und Kindern an.
* Sebastião Salgado: Gold, noch bis zum 30.5.2020, Galerie Bene Taschen, Moltkestraße 81, 50674 Köln
SEBASTIÃO SALGADO, Gold mine of Serra Pelada. Pará, Brazil, 1986 (links) // SEBASTIÃO SALGADO, Gold mine of Serra Pelada. Pará, Brazil, 1986 (rechts)
Silver gelatin print, 120 x 180 cm + 40 x 50 cm
Alle Bilder unten: © Sebastião Salgado + Courtesy Galerie Bene Taschen
Foto oben: Damian Zimmermann