Paolo Roversi realisierte den Pirelli Kalender für das Jahr 2020. Unter dem Titel „Looking for Juliet“ ließ sich der Fotograf dabei von William Shakespeares zeitlosem Drama inspirieren. Im Interview gibt er Auskunft über die Entstehung und sein Konzept.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Ihnen angeboten wurde, den Pirelli Kalender aufzunehmen?
Paolo Roversi: Ich habe seit Jahren davon geträumt, diesen Kalender zu machen, denn der Pirelli Kalender ist für einen Fotografen etwas ganz Besonderes. Ich bin glücklich, dass sich mein Traum verwirklicht hat. Das Projekt ist ideal: Pirelli lässt dir freie Hand und unterstützt dich dabei, ein qualitativ hochwertiges Projekt zu realisieren, das auf der ganzen Welt bekannt ist. Ich habe fast alle Kalender gesehen, die bisher veröffentlicht wurden: sie sind wunderbar und von den größten Fotografen aufgenommen. Das hat mich noch stärker dazu angetrieben, in diesem Projekt, dessen Niveau von je her sehr hoch ist, mein Bestes zu geben.
Wie sind Sie auf die Idee für Ihr Projekt gekommen?
Paolo Roversi: Ich wollte ein Konzept, das von Schönheit und Liebe spricht. Ein ganz einfaches und starkes Konzept. Liebe und Schönheit sind seit vielen Jahren Gegenstand meiner Recherchen. Und als erster italienischer Fotograf für das Projekt eines italienischen Unternehmens wollte ich eine Story, die mit Italien verbunden ist.
Und so ist die Idee entstanden, eine neue Julia zu finden?
Paolo Roversi: Es gibt keine neue oder alte Julia… mein „Looking for Juliet“ ist die Suche nach einem Ideal, nach einem Traum. Sie durchquert Epochen. Sie ist das Ideal einer Frau, die Feminität und den Zauber der Liebe verkörpert und die Eigenschaften einer Frau in sich trägt, die Zartheit und Stärke, Schüchternheit und Rebellion in sich vereint… Julia ist all das. Die Tragödie, in der sie die Hauptfigur ist, stellt die schwimmende Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen einer Träne und einem Lächeln, zwischen Glück und Schmerz, zwischen Gut und Böse dar. Ich war von dieser so undeutlichen, fast zweideutigen Grenze, schon immer fasziniert. Meine gesamte Fotografie bewegt sich auf diesem dünnen Faden, und vielleicht liegt die Schönheit, nach der ich suche, das Geheimnis, das ich zu enthüllen versuche, gerade in diesem Faden selbst.
Und die Wahl der Darsteller?
Paolo Roversi: Ich habe versucht, Frauen aus verschiedenen Kulturen, aus verschiedenen Ländern und jede mit ihrer eigenen Geschichte zu finden. Und schließlich haben wir ein großes Cast zusammengeholt. Mit Personen aus den verschiedensten Ecken der Welt. Es war nicht leicht, das Shooting zu organisieren, aber dank der hervorragenden Arbeit von Piergiorgio Del Moro, unserem Casting Director, haben wir es geschafft. Schauspielerinnen, Sängerinnen und wundervolle Künstlerinnen mit verschiedenen Begabungen und Charakteren: Sie haben das Projekt vollkommen verinnerlicht und mit Leidenschaft Julias Abenteuer geteilt. Sie haben Abschnitte aus Shakespeares vorgetragen oder Episoden aus ihrem eigenen Leben und ihrem eigenen Werdegang erzählt und auf dem Set Emotionen geschaffen, von denen alle ergriffen waren.
Verschwindet Romeo inmitten all dieser Frauen?
Paolo Roversi: Nein, Romeo verschwindet nicht. Er gehört untrennbar zur Geschichte. Wenn es Romeo nicht gäbe, dann gäbe es auch Julia nicht. Und wenn sie zusammen sind, verkörpern sie die Liebe. Sie vermitteln eine universal gültige Botschaft von Liebe und Schönheit, denn ich glaube, dass Schönheit und Liebe über alle kulturellen und religiösen Grenzen hinausgehen. Sie sind universal.
Hat Sie bei den Aufnahmen für den Kalender etwas besonders beeindruckt?
Paolo Roversi: Es gab vielerlei Überraschungen. Und Überraschungen gehören zu meiner Arbeit. Das Unvorhergesehene, Zufälle und Wagnisse sind für mich wesentliche Bestandteile. Neben dem Kalender habe ich auch einen Film gemacht, der sich aus vielen überraschenden und bewegenden Augenblicken zusammensetzt.
Ihre Models haben also auch geschauspielert?
Paolo Roversi: Ja. Meine „Julias“ sind nicht nur auf Fotos zu sehen, sondern auch als Darstellerinnen in meinem Film. Ich habe ihn auf den Sets gedreht, die wir in Paris und in Verona aufgebaut haben, der Stadt, in der Julia lebendig ist und in der unser Kalender präsentiert wird. Die Realisierung eines Films ist eine Neuheit und ich bin glücklich, dass ich ihr Schöpfer bin. Zusammen mit dem Kalender wurden schon immer gute Videos veröffentlicht, aber sie zeigten Backstage-Situationen. Mein Film ist kein Backstage-Film. Er läuft parallel zum Pirelli Kalender 2020, mit dem es die Story teilt und sie in anderer Form zum Ausdruck bringt.
Haben Sie am Ende ihre Julia gefunden?
Paolo Roversi: Ich bin noch immer auf der Suche nach Julia und werde es wohl immer bleiben. Im Grunde ist Julia ein Traum, der niemals in Erfüllung gehen wird. Eben darin liegt ihr Zauber, ihre Schönheit, ihr Geheimnis. Ich hoffe jedenfalls, dass meine Julias die Menschen träumen lassen.
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