Erfahrene Fotografen wissen, welche Verschlusszeit sie wählen müssen, um Motive in der Bewegung einzufrieren. Immer höhere Sensorauflösungen zwingen jedoch dazu, solche Erfahrungswerte auf die Probe zu stellen.
In der Anfangszeit der Fotografie, als eine Belichtung noch in Minuten gemessen wurde, dienten Kopfstützen als Hilfsmittel, damit die Porträtierten absolut still hielten und scharf abgebildet wurden. Heutzutage können wir meist auf eine kurze Verschlusszeit zurückgreifen, um selbst bei schnellen Motiven eine Bewegungsunschärfe auszuschließen. Andererseits wollen wir es damit auch nicht übertreiben, denn für eine unnötig kurze Verschlusszeit müssten wir die Blende weiter öffnen oder mit dem ISO-Wert heraufgehen, aber die damit einhergehende geringere Schärfentiefe ist nicht immer und ein erhöhtes Rauschen nie erwünscht.
Erfahrungswerte
Die Erfahrung sagt einem, welche Belichtungszeit für ein Porträt reicht, für Street-Fotografie, spielende Kinder, Rennpferde oder Formel-1-Boliden. Aber unsere Erfahrung haben wir in der Vergangenheit gesammelt, und die technische Entwicklung hat sie mittlerweile überholt. Streng genommen lässt sich eine Bewegung nie einfrieren, denn selbst während der kürzestmöglichen Verschlusszeit bewegt sich das Motiv. Es kann nur darum gehen, die Bewegungsunschärfe so klein zu halten, dass sie unmerklich bleibt, und das hängt auch von der Sensorauflösung und der Pixelgröße ab.
Im Jahre 2002 galten 6 Megapixel noch als respektable Auflösung einer DSLR; heute fotografieren wir oft mit Kameras, deren Sensoren zwischen 40 und 50 Megapixel auflösen.
Nehmen wir beispielsweise eine Nikon Z7 (45,7 MP) oder Panasonic S1R (47,3 MP), deren Sensorpixel jeweils rund 4,3 Mikrometer voneinander entfernt sind. Eine Sony Alpha 7R III (42,4 MP) liegt mit 4,5 Mikrometern nur wenig darüber. Mit einem 50-mm-Objektiv und einem zwei Meter entfernten Motiv ergibt sich ein Abbildungsmaßstab, bei dem der Abstand eines Sensorpixels etwa 0,17 mm in der Motivebene entspricht. Bewegt sich das Motiv auch nur um 1/6 eines Millimeters, verschiebt sich das Bild bereits um einen Pixel. Kleine Details werden auf zwei Pixel verschmiert, und wenn der Sensor kein Tiefpassfilter hat, erkennt man bereits eine leichte Unschärfe. Ein Tiefpassfilter, das seine eigene Unschärfe erzeugt, kann dies noch ein wenig kaschieren – das Motiv müsste sich dann rund 50 % schneller bewegen, um einen sichtbaren Effekt zu erzeugen.
In der analogen Ära war nicht nur die Auflösung gängiger Kleinbildfilme geringer als die aktueller Sensoren; auch die Ansprüche an Auflösung und Schärfe waren noch nicht so extrem. Heute zoomen wir mit einem Klick in eine 1:1-Darstellung, in der jedes Monitorpixel einem Bildpixel entspricht, was jede minimale Unschärfe erbarmungslos offenlegt. Viele Meisterwerke der Fotografie hielten unseren heutigen Anforderungen an die Bildschärfe nicht stand – das mindert ihren Wert in keiner Weise, aber das tröstet keinen Fotografen, der für seine Investition in eine neue, höher auflösende Kamera pixelscharfe Bilder erwartet.
Zu schnell für die Kamera
Zurück zum oben beschriebenen Szenario: Nehmen wir an, das Motiv in zwei Metern Entfernung, das wir mit einer 50-mm-Normalbrennweite fotografieren, sei eine Person, die ruhig auf einem Sofa sitzt. Eine Verschlusszeit von 1/125 s erschiene uns vielleicht ausreichend, etwaige Körperbewegungen so weit einzufrieren, dass sie die Bildschärfe nicht beeinträchtigen. Aber ist das so? Für eine Bewegung um 0,17 mm in 1/125 s, die wie vorher ausgerechnet eine minimale Unschärfe erzeugt, wäre eine Geschwindigkeit von 21 mm pro Sekunde nötig. Das ist keineswegs besonders schnell und man braucht gar keine sehr lebhafte Mimik zu haben, um diese Geschwindigkeit zu überschreiten. Schon wer verwundert die Augenbrauen hebt, könnte damit leichte Wischspuren erzeugen. Die Hände erreichen beim Gestikulieren noch höhere Geschwindigkeiten. Um keine Kompromisse bei der Bildschärfe einzugehen, sollten wir also bei 50 mm eher 1/250 s und bei 100 mm 1/500 s wählen – und das, obwohl unser Motiv vergleichsweise ruhig sitzt. Würden wir statt des Normalobjektivs ein leichtes Tele mit 100 mm Brennweite einsetzen, müssten wir die Verschlusszeit noch einmal halbieren. Die immer effektiveren Bildstabilisatoren lassen uns unvorsichtig werden; wir trauen uns längere Verschlusszeiten zu, obwohl dann gar nicht mehr die Verwacklung, sondern die Bewegungen des Motivs der kritische Faktor sind.
Automatik
Im Belichtungsmodus der Blendenautomatik können wir eine hinreichend kurze Verschlusszeit vorgeben, aber das ist keine befriedigende Lösung. Vielleicht streben wir eine geringe Schärfentiefe an und wollen daher offenblendig arbeiten, müssten dafür aber je nach den Lichtverhältnissen eine noch kürzere Zeit wählen. Oder wir erhalten mit der zum Einfrieren der Bewegungen nötigen Verschlusszeit keine optimale Belichtung mehr, sodass ein höherer ISO-Wert erforderlich wird. Statt bei der Belichtungsautomatik gibt man die maximale Belichtungszeit bei der ISO-Automatik vor. Die ISO-Automatik, die neben der Belichtungsautomatik arbeitet und diese ergänzt, versucht mit dem geringstmöglichen ISO-Wert auszukommen und erhöht die Empfindlichkeit nur, wenn dies nötig ist, um eine maximale Belichtungszeit nicht zu überschreiten. Wohlgemerkt ist diese maximale Zeit keine absolute Grenze: wenn selbst der höchste verfügbare ISO-Wert nicht ausreicht, wird die Belichtungsautomatik auf eine längere Verschlusszeit ausweichen, um eine korrekte Belichtung zu gewährleisten.
Die Kamerahersteller haben bei der ISO-Automatik allerdings nicht das Einfrieren von Bewegungen des Motivs im Sinn. Vielmehr geht es darum, Verwacklungsunschärfe zu vermeiden. Traditionell gilt hier ja die Kehrwertregel: Man sollte unterhalb der Verschlusszeit bleiben, die dem Kehrwert der Brennweite in Millimetern entspricht (das gilt für das Kleinbildformat; für Kameras mit größeren oder kleineren Sensoren muss man die Brennweite umrechnen). Bei 50 mm läge die Grenze also bei 1/50 s – für unsere Zwecke wäre das viel zu lang.
Die traditionelle Kehrwertregel erfüllt aber ohnehin nicht die aktuellen Schärfeanforderungen; wenn wir nicht auf einen Bildstabilisator zurückgreifen oder die Kamera auf ein Stativ montieren können, sollten wir das Ergebnis mindestens halbieren, wenn wir mit hochauflösenden Sensoren pixelscharfe Bilder erwarten. Daher sollte es möglich sein, als Parameter der ISO-Automatik auch die Hälfte oder ein Viertel des Kehrwertes der Brennweite vorzugeben – sowie das Doppelte oder Vierfache, falls wir uns auf eine ruhige Hand verlassen können. Oft stehen aber nur die Kehrwertregel oder feste Zeiten zur Wahl.
An Bewegungen der Motive haben die Kamerahersteller bislang gar nicht gedacht, aber auch diese ließe sich mit der ISO-Automatik bekämpfen. Für die dazu nötige Verschlusszeit ist nicht die Brennweite allein ausschlaggebend, sondern der Abbildungsmaßstab, der sich aus Brennweite und Entfernungseinstellung ergibt. Über beide Informationen verfügt die Kamera durchweg, sieht man von der Adaptierung rein manueller Objektive ab. Der Pixelabstand, der das Kriterium der Schärfe definiert, ist für jede Kamera bekannt. Als Fotograf bräuchten wir nur noch die Geschwindigkeit unserer Motive vorzugeben. Wenn wir also nach der Porträtsession spielende Kinder oder Autos fotografieren wollten, müssten wir auf deren geschätzte Geschwindigkeit umschalten und die Kamera würde sich um den Rest kümmern. Leider zeigt noch kein Hersteller Ansätze, einen solchen – technisch trivialen – Wunsch zu erfüllen.
Immer Ärger mit den Megapixeln
Man könnte nun argwöhnen, dass die immer höheren Sensorauflösungen gar nicht so erstrebenswert wären, da wir doch einen immer höheren Aufwand treiben müssen, um damit auch wirklich pixelscharfe Bilder aufzunehmen. Tatsächlich bekommen wir hier nichts geschenkt, denn die nominelle Auflösung wird nur erreicht, wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind – nicht nur die Vermeidung von Bewegungsunschärfe, sondern auch die Abbildungsqualität des Objektivs. Das Objektiv muss um so mehr Linien pro Millimeter mit hohem Kontrast abbilden, je näher die Sensorpixel beieinander liegen, die unterschiedliche Tonwerte und Farben erkennen sollen.
Aber selbst wenn diese Voraussetzungen einmal nicht vollständig erfüllt sind, erzeugt ein höher auflösender Sensor immer noch ein qualitativ besseres Bild. Eine höhere Sensorauflösung kann man sich als Oversampling vorstellen, wie man es aus dem HiFi-Bereich kennt: Das optische Bild mit allen seinen Mängeln wird feiner abgetastet. Nachträgliche Korrekturen der Beugungsunschärfe durch eine objektiv- und blendenabhängige Dekonvolution beispielsweise, wie sie zuerst Fujifilm und mittlerweile auch Canon, Olympus und Panasonic anwenden, liefern um so bessere Ergebnisse, je mehr Pixel das Ausgangsmaterial enthält. Auch andere Bildfehler lassen sich auf diesem Wege vermindern. Selbst wenn es den Anschein hat, dass mehr Megapixel nur Unschärfen deutlicher hervortreten lassen, bieten sie die Voraussetzungen für noch bessere Bilder.
Das heißt wohlgemerkt nicht, dass die Bilder immer in der maximalen Auflösung gespeichert oder im Raw-Konverter exportiert werden müssen. Wenn Sie die Bilder eines 48-MP-Sensors auf 24 Megapixel herunterskalieren, zeigen diese eine sichtbar bessere Detailauflösung als jene eines Sensors, der von vornherein nur 24 Megapixel auflöst. Es spielt dann auch keine Rolle, dass kleinere Sensorpixel weniger Licht einfangen und daher bei Rauschabstand und Dynamikumfang möglicherweise im Nachteil sind. Selbst wenn das einzelne Pixel eines höher auflösenden Sensors schlechtere Daten zeigen sollte, wird das Bild im Ganzen – verglichen mit einem gleich großen, aus dem gleichen Abstand betrachteten Bild eines niedriger auflösenden Sensors – eine überlegene Qualität zeigen.
Von: Michael Hußmann