Spiegellose Systeme werden zurzeit als die große Ablösung der Spiegelreflexkamera wahrgenommen. Diese sehr vereinfachte Sichtweise wird vor allem von Herstellern erzählt, die keine Spiegelreflexkameras im Angebot haben. Doch die Betrachtung beider Systeme bringt nicht die einfache Lösung, sondern erfordert einen Blick auf die Details. Denn je nach Anwendung spielen die beiden Systeme unterschiedliche Stärken aus. Durch die Vorstellung des EOS R Systems und die Weiterentwicklung von Spiegelreflexmodellen ist Canon in der Lage, die unterschiedlichen Stärken voll auszureizen und Fotografen und Filmern die jeweils passenden Produkte anzubieten.
Größe und Bedienung
Im Canon-Universum stehen nun im Vollformat sowohl spiegellose als auch Spiegelreflexkameras zur Verfügung. Eine Grunderwartung bei spiegellosen Kameras ist sicherlich die Einsparung von Größe und Gewicht. Beide Kameras, die EOS R und noch mehr die EOS RP, erfüllen diesen Wunsch perfekt. Doch eine Reduzierung der Größe bedeutet auch immer eine Veränderung der Bedienstruktur oder das Wegfallen von Bedienelementen. Aus diesem Grund sind beide spiegellosen Modelle umfangreich individualisierbar und im Falle der EOS R auch mit neuen Bedienelementen ausgestattet.
Der Wegfall des Joy-Sticks kann durch die „Touch&Drag“ AF-Steuerung oder durch individuelle Belegung der Kreuztasten kompensiert werden. Durch individuelle Tastenbelegungen hat der Profi die Chance, die Kamera auf seine Bedürfnisse anzupassen. Im Fall der EOS R Serie lohnt sich also ein Blick auf die Tastenindividualisierung.
Das neue RF Bajonett
Mit der EOS R wurde durch den Wegfall des Spiegels auch ein neues Bajonett eingeführt, das neben dem gewohnt großen Durchmesser auch ein kurzes Auflagemaß aufweist. Hier werden sich tatsächlich Vorteile in den Objektivkonstruktionen abzeichnen. Entweder durch kompaktere Abmessungen, bessere Bildqualität vor allem bei hochlichtstarken Objektiven, oder durch neue Konstruktionen, die es so bisher nicht gab. Für den Profi
sind schon jetzt das RF 50mm F1.2 L USM und das RF 28-70mm F2,0 L USM gute Belege dafür. Konstruktionsbedingt können die neuen RF-Objektive nicht an einer DSLR angesetzt werden. Aber umgekehrt ist das ohne jegliche Einschränkungen machbar. Das RF-Objektivsystem wird schnell ausgebaut, aber auch das EF-Objektivsystem wird weiterhin durch neue Objektive gepflegt werden.
Geräuschpegel
Durch den Wegfall des Spiegels bei der EOS R Serie ergibt sich die Chance einer deutlich reduzierten Geräuschkulisse, denn der Spiegelschlag fällt weg. Durch die Möglichkeit vollelektronisch auszulösen, besteht auch die Möglichkeit, völlig lautlos zu fotografieren. Bei der lautlosen Auslösung sollte aber nicht vergessen werden, dass nur ohne Blitz fotografiert werden kann, und dass es bei frequenzmodulierten Lichtquellen, wie LED oder Leuchtstofflampen, zu Streifenbildung kommen kann. Doch auch die EOS Spiegelreflexmodelle bieten über die LiveView-Funktion eine erheblich leisere Auslösung an. Und es kann erwartet werden, dass auch bei den Canon DSLR Modellen die völlig lautlose Auslösung im LiveView-Betrieb Einzug finden wird. Insofern gibt es die Möglichkeit, dezent zu fotografieren, in beiden Kamerawelten.
Sucherkonzepte
Im Bereich der Sucherkonzepte sind die Unterschiede augenfällig. Spiegelreflexkameras ermöglichen den direkten Blick durch das Objektiv, ohne einen Monitor als Zwischenbild. Manche Fotografen sagen, durch einen elektronischen Sucher verlören sie den Kontakt zum Motiv. Sicherlich ist dies eine sehr subjektive Sicht, aber nicht von der Hand zu weisen. Tatsache ist, dass ein optischer Sucher verzögerungsfrei, stromlos und vertraut arbeitet. Das Plus bei einem elektronischen Sucher der spiegellosen Kameras ist sicherlich die Bildkontrolle vor der eigentlichen Aufnahme auf Helligkeit, Farben etc. – doch die Kontrollmöglichkeiten bieten DSL-Modelle über LiveView und Tethered Shooting auch, nur nicht über den Sucher selbst. In sehr dunkler Umgebung arbeitet der elektronische Sucher wie ein Restlichtverstärker, LiveView natürlich auch. Es verlangsamt sich allerdings die Wiederholrate und das Sucher-/LiveView-Bild wird zunehmen träge und weniger direkt.
DSLR Sucher zeigen diesen Effekt natürlich nicht, sind aber dafür im Dunkeln dunkel. Arbeitet man im Studio mit Blitz und Einstelllicht, ist ein optischer Sucher sicherlich ermüdungsfreier. Auch hier ist die Wahl des Konzeptes dem persönlichen Geschmack oder der Arbeitsweise unterworfen. Einen klaren Sieger gibt es hier nicht.
Akkulaufzeiten
Bedingt durch den elektronischen Sucher ist der Stromverbrauch bei spiegellosen Kameras deutlich höher. Meist benötigt der elektronische Sucher sogar etwas mehr Strom als das rückwärtige Display. Wer also eine große Anzahl Aufnahmen am Stück produzieren möchte, benötigt beim spiegellosen System Reserve-Akkus. Eine DSLR bietet eine um ein Vielfaches größere Akkureichweite, bis zu mehreren tausend Aufnahmen pro Ladung.
Blitzlichtfotografie
Im Prinzip funktioniert das Blitzen bei der EOS R Serie wie mit einer gewohnten EOS. Zwei Unterschiede gibt es aber. Im Studioblitzbetrieb muss bei der EOS R, wie bei den DSLRs im LiveView-Modus, der Verschlussmodus umgestellt werden („leise LV-Aufnahme“). Geschieht das nicht, werden klassische Studio-blitzsysteme ohne E-TTL-Messung nicht gezündet. Das ist alles unproblematisch, man muss nur dran denken.
Ein weiterer Unterschied betrifft das Blitzen mit Autofokus-Hilfslicht. In der Event- und Bühnenfotografie, vor allem bei starkem Gegenlicht, können sich auch sehr lichtempfindliche Autofokussysteme schwertun, das Motiv ohne Hilfe korrekt zu fokussieren. Ein typisches Motiv sind z.B. Redner vor Business-Präsentationen, wo sowohl der Präsentationsinhalt als auch die Person gut zu erkennen sein sollen. Canon Speedlites besitzen ein starkes Infrarotlicht, das ein Muster auf das anvisierte Objekt projiziert. Nur leider sind alle spiegellosen Systeme im Markt für solche Infrarotlichtmuster blind, denn Infrarotlicht darf über den Bildsensor nicht zum Bild beitragen, auch wenn der Bildsensor zum Fokussieren verwendet wird. Daher ist dieses AF-Hilfslicht bei spiegellosen Modellen abgeschaltet. Wer es benötigt, muss zwingend auf eine DSLR zurückgreifen!
Autofokus
Ein besonders wichtiger Blick gilt dem Autofokus beider Systeme. Sowohl das EOS R System, als auch die DSLR Modelle im LiveView-Modus nutzen die Fokussierung über den Bildsensor über den Canon eigenen Dual Pixel CMOS AF. Hier werden eine Phasenkontrastmessung und eine Kontrastmessung effizient miteinander verknüpft. Der Vorteil ist, dass der Autofokus-Mess-punkt praktisch im gesamten Bildfeld platziert werden kann. Die Messung ist zudem extrem präzise und auch schnell. Darüber hinaus kann man mit dem AF-System beim Filmen sehr gleichmäßig fokussieren. Bei dieser Messmethode steht bei den spiegellosen Modellen und auch im LiveView eine Gesichtserkennung zur Verfügung. Nur die EOS-1D X Mark II bietet bei dem traditionellen AF-Verfahren einer DSLR eine Gesichtserkennung. Ergänzt wird die Gesichtserkennung durch eine zusätzliche Augenerkennung bei den spiegellosen Modellen. Eine Funktion, die (noch) nicht bei den DSLRs im LiveView zu finden ist.
Bei all den komfortablen Funktionen bieten die professionellen AF-Systeme der Spiegelreflexkameras aber einen entscheidenden Vorteil beim Verfolgen von Objekten. Kann das System der Spiegellosen beim Verfolgen über die Bildfläche punkten, so liegen die Stärken der DSLR in der Verfolgung über die Tiefe, vor allem bei ungleichmäßig bewegten Motiven. Das Phasenverfahren der Spiegellosen kann zwar sehen, in welche Richtung fokussiert werden muss und in einem relativ kleinen Bereich sieht das System auch, wo die Schärfe liegen soll. Das klassische Phasenkontrastverfahren des DSLR-Autofokus kann aber sehr viel weiter blicken und erkennt schon am unscharfen Motiv, wo die Schärfe tatsächlich liegen muss. Daher kann das DSLR-System sehr präzise Bewegungen vorausberechnen und ist auch bei komplexen Bewegungen nicht überfordert. Beispielsweise bei Ballsportarten, Haarnadelkurven, Fechten, Tanz und der Tierfotografie kann das AF-System der DSLR weit mehr leisten als die beste Fokussierung über den Bildsensor. Hinzu kommt, dass die bildsensorbasierten Phasen-AF-Messpunkte keine Kreuzsensoren sind, was bei manchen Strukturen die Fokussierung erschwert – ein Thema bei allen Herstellern. Canon EOS DSLR-Modelle bieten allesamt AF-Kreuzsensoren.
Es stellt sich also auch hier die nüchterne Frage, welches System der Anwendung am besten dient und damit, welche Kamera zum Einsatz kommen sollte.
Fazit
Kein Kamerasystem, weder DSLR noch spiegellose Kameras, kann in allen Disziplinen gleichzeitig eindeutig als Sieger hervorgehen. In einzelnen Anwendungsgebieten aber sehr wohl. Daher sollte die Frage, in welchem Gebiet die Kamera zum Einsatz kommen soll, als erstes geklärt werden. Erst dann zeigt sich, welches Prinzip die bessere Wahl sein wird. Die hier gezeigten Tabellen sollen helfen, bei dieser Frage schneller zum Ziel zu kommen.
Der große Vorteil am Canon System ist, dass beide Kameratypen im Angebot sind. Man kann beide Kameratypen parallel benutzen und die Kamera entsprechend des Einsatzbereiches optimal auswählen, ohne das System zu verlassen. Durch die vollständige Kompatibilität des EOS R Systems mit den vorhandenen EF- und EF-S-Objektiven ist ein Hybridbetrieb ohne weiteres möglich und die Investitionssicherheit auf lange Sicht gegeben. Bei aller Komplexität ist das ein Vorteil, der nicht unterschätzt werden sollte.