Es gab eine Zeit. Da zeigte ich mit zwei Fingern auf meine Augen, tippte mir an die Stirn. „Das ist meine Kamera. Wozu brauche ich eigentlich so einen komischen Apparat?“ Wie blöd kann ein Mensch eigentlich sein? Hendrik Neubauer, damals ein „blauäugiger“ Twentysomething, äußert sich Jahrzehnte später „Ungefragt“ zu dem Thema „50 Jahre Fotografie in meinem Kopf“.
Meine Erinnerung erzählt mir, wie es anfing. Bei uns im Esszimmer lag ganz oben auf dem Zeitungsstapel „DER SPIEGEL“. Das Cover zeigte ein Porträt von Robert F. Kennedy. Vor schwarzem Hintergrund mit weißem Rand. Wie eine Traueranzeige. Nur der rote Rahmen sagte Achtung, ich bin keine Traueranzeige, die ins Haus geflattert ist. Ich bin ein Magazin und ich berichte darüber, wie schwer getroffen Amerika im Moment ist. Der demokratische Präsidentschaftskandidat war am 6. Juni 1968 erschossen worden. Was bei mir von diesem Ereignis ankam, war, dass wir abends sehr schweigend am Abendbrotstisch saßen, meine Mutter weinte, mein Vater zündete sich noch am Tisch eine Rothhändle an. In den nächsten Tagen lag eine Traurigkeit über dem Haus. Meine Eltern waren vom 68er-Geist berührt, wie ich später dann realisieren sollte. In dieser Zeit schauten viele hoffnungsvoll auch nach Amerika, meine Eltern auch. Peace, Love and Happiness! Aber nun waren sie tief erschüttert. Wie sollte das wohl weitergehen mit der Demokratie? Schon wieder ein Attentat, schon wieder ein Kennedy. Das Cover lag genau eine Woche dort. Die Erwachsenen diskutierten, ich war verstrahlt, solange mich der Kennedy aus der Ecke anschaute – nur von Tag zu Tag weniger. Sowieso ging ich jeden Tag nach der Schule auf den Wiesen spielen. Ich wohnte auf einem Kuhdorf. Amerika war weit weg. An das Cover am nächsten Montag kann ich mich nicht erinnern und ich werde das jetzt nicht googeln.
Ein paar Jahre später schenkte mir Oma Charlotte eine Kamera. Einen Rollfilm gab es auch dazu. Ich habe genau diesen einen Film verschossen und entwickeln lassen. Ich verknipste ihn auf einer Tour mit der Großmutter durch Hamburg. Alster, Hagenbeck, Eimsbüttel. Das war ein toller Tag. Das weiß ich noch so genau, da ich mir damals sogar ein kleines Album angelegt habe. Später, als fortgeschrittener Teenie jedoch, war ich immer schwer genervt, wenn die Alten uns unnachgiebig zur Aufstellung für das Familienfoto aufforderten oder sogar beim Torteessen knipsten. Das sah immer blöd aus, wer auch die Kamera in den Händen gehalten hatte. Omas Geschenk wanderte in die Schublade.
Dann kamen die Achtziger. Die besagte Zeit, in der ich nur mit dem Hirn fotografierte. Ich bin meinem alten Kumpel Maassi immer noch dankbar, dass er so ausführlich unsere Tour um die iberische Halbinsel fotografisch dokumentiert hat. Hätte ich nicht die Abzüge von ihm bekommen, wer weiß, wo meine Erinnerungen verschüttgegangen wären? Zwischen Uni-Bibliothek und Tresen? Während meiner Studienzeit fraß ich vor allem historische Texte. Fotos als Dokumente der Zeitgeschichte interessierten mich nur peripher. Ich stürzte mich zum Ende des Studium in die Exegese von Texten aus der Feder rechtsextremer Norweger, die um 1929 die Demokratie in ihrer Heimat um die Ecke bringen wollten. Hätte ich mir damals nur einmal die Fotos aus der Zeit angeschaut, hätte ich erkannt, dass die Faschisten in der Zwischenkriegszeit in Norwegen eher als Sekte daherkamen. Kein Vergleich zu den Saalschlachten in der Weimarer Republik. Auch der spätere Statthalter der Nationalsozialisten in Oslo, Vidkun Quisling, versammelte nur ein kümmerliches Häufchen Gefolgsleute um sich. Das änderte sich später mit dem Einmarsch der Deutschen in Norwegen. Ich bekam meinen Magister in Geschichtswissenschaft aber auch ohne mich großartig um die gerade aufkommende Bildwissenschaft und die Auseinandersetzung mit Fotografie gekümmert zu haben.
Das sollte sich schnell ändern. Ich trat ein Volontariat bei einem Verlag in Dortmund an, der die Buchwelt mit Chroniken aller Art beglückte. Ich landete in der Bildredaktion und fing an Bilder zu fressen. Tag für Tag. Das war Anfang der Neunziger. Ich durfte bald schon eine Reise nach Stockholm machen, ich verbrachte eine Woche im Bildarchiv des Schwedischen Fernsehens. Hier schloss ich Freundschaften und legte den Grundstein für spätere Bildbandprojekte, die zehn Jahre später in großen Auflagen und vielen Sprachen erscheinen sollten. Hier tat sich für mich ein Kosmos auf, den ich seitdem nicht mehr verlassen habe. Ich leitete später eine Bildagentur, die „Black Star“ in Deutschland vertrat. In der Zeit habe ich den Jubliäumsband „Black Star. 60 Years of Photojournalism“ herausgegeben. Ich erinnere noch genau, wie ich im Gastraum der Agentur, die Mitte der 1930er-Jahre von drei deutschen Juden gegründet worden war, saß. Ich hatte im Vorwege Themenlisten geschrieben und die wurden jetzt lebendig. Die Archiv-Mitarbeiterinnen schoben unermüdlich Wagen um Wagen an meinen Arbeitsplatz. Und ihre Anekdoten gab es gleich frei Haus. Die Damen erzählten von denen, die vor mir in dem Raum gesessen hatten. Die Essenz ist in dem Jubiliäumsband der Agentur nachzulesen, denn ich hatte auch das Glück, den Text für das Buch schreiben zu dürfen. Auf dem Cover prangt ein anderer Kennedy. John F. im Schaukelstuhl. Und als ich mit einer meiner Töchter an der Hand kurz nach Erscheinen des Bildbandes durch einen Buchladen einer deutschen Großstadt, drehte sich die Kleine zu meiner Frau um und sagte: „Guck mal, Mama, das ist doch Papa da in dem Schaukelstuhl.“