Alle Jahre wieder. Hendrik Neubauer hat seinen Nachttisch geräumt. Er empfiehlt „Ungefragt“ Literatur, die die Fotografie zum Thema macht. Die diesjährige Ausgabe weiß von Frauen mit Rädern, einem Reporter-Pfau und einem Quasi-Roman zu berichten.
William Boyd revisited. Ich habe dessen Entwicklungsroman „Die Fotografin“ vor zwei Jahren bereits beiläufig erwähnt. In diesem Jahr ist er als Taschenbuch erschienen. Es ist ja bekannt, dass der Autor mit diebischer Freude Künstlerbiografien erfindet und diese nach allen Regeln der Schreibkunst ausschmückt. Im Falle von Amory Clay (1908-1983) erzählt er deren Karriere als Fotografin, die aber eher von Tiefpunkten geprägt ist. Clay beginnt als Gesellschaftsfotografin in London. Sie porträtiert eine Dame auf einer Gartenparty. Sie überredet ihr Model, mit zwei Tennisschlägern in den Händen zu posieren. „Sie sieht ja aus, als hätte sie Räder“, kommentiert ihr Onkel und fotografischer Mentor. Das Magazin „Beau Monde“ feuert sie eine Woche später. Nachvollziehen lässt sich dieser Lapsus anhand anonymer Fotografien, die Boyd wohl auf dem Flohmarkt erstanden hat und die dem Buch als fiktiver Nachweis von Clay´s fotografischer Arbeit dienen. Sie sind durchgängig von mäßiger Qualität. Lässt sich darauf eine bahnbrechende Karriere aufbauen?
Ihre Fotos werden alsbald einen Skandal provozieren. Clay folgt dem Rat ihres Onkel, der Verbindungen in die deutsche Hauptstadt hat. Es ist die Zeit des Babylon Berlins Ende der Zwanziger. Sie fotografiert mit versteckter Kamera das sündige Nachtleben an Orten wie dem „Klosett-Club“. Wieder in London bringt sie ihre Fotos mit Hilfe ihres Onkels an die Wände einer Galerie., die sie kurzerhand eröffnet. Kurz nach der Vernissage beschlagnahmt die Polizei Prints und Negative. Bei der Galerieeröffnung lernt sie einen amerikanischen Verleger kennen, dem folgt sie nach New York und schon bald wird sie die Büros des „Global Photo Watch“-Magazins in London und später in Paris leiten. In den 1930-er und während des II. Weltkriegs ist sie vorwiegend administrativ tätig und die fotografischen Einsätze an der Front bilden die Ausnahme.
Die bewegte Zeitgeschichte des 20. Jahrhundert dient als Folie für eine bewegte Lebens- und Liebesgeschichte. Die Ich-Erzählerin blättert im munteren Plauderton ihre „vielen Leben“ auf. Scheitern als Chance. Sie ist künstlerisch nicht so begnadet wie ihre Geschwister. Sie wirkt eher hinter den Kulissen des expandierenden Medienmarkts. Berufliche Tiefschläge bringen sie aber immer wieder in sehr spannende bis prekäre Liebeslagen. In Sachen Erfolg mag Amory Clay hinter berühmten Zeitgenossinnen wie Margret Bourke-White, Dorothea Lange oder Gerda Taro zurückstehen. Gerade das professionelle Scheitern verleiht diesem erfundenen Leben die entscheidenden Wendungen. Genau das macht das Buch zum „Pageturner“.
Zeitsprung. Sven Reckers „Fake Metal Jacket“ erzählt von der Presse im Zeitalter von Fake-News. Peter Larsen macht es sich bequem hinter der Front in Libyen. Der Krisenreporter schreibt auf, was er so hört, den Kontext findet er Internet. „Wenn einer der Kollegen ihn fragte, woher er seine Geschichten hatte, lachte er: Ha, ha, early bird, ich war heut schon draußen!“ Als er nach zwei Monaten Tripolis in seine Redaktion zurückkehrt, ist Larsen der Star. Er wird Chefreporter und Kolumnist. „Einmal die Woche ein Interview, Politiker, Schauspieler, Sportler, Hauptsache ein großer Name (…) Saß einmal im Monat breitbeinig in Talkshows und referierte über den Zustand der Welt.“ Er kündigt die Festanstellung, handelt eine Pauschale weit über Tarif aus. Dann kam der Fall. Er interviewt einen Geschäftsmann und Kunstsammler und schreibt hinterher die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Das verbittet sich sein einflussreicher Gesprächspartner. Der Verlag sieht sein Anzeigengeschäft in Gefahr und feuert den Reporter.
Vor diesem Hintergrund rotzt Recker einen rasanten Roman heraus. Stakkato-Sätze treiben den Reporter vor sich her. In kurzen Kapiteln und knapper Sprache entsteht ein Einblick in die Entstehung von Fake-News. Der Journalist betreibt einen fingierten Facebook-Account. Der wird in Damaskus von einem syrischen Strohmann mit Infos und Fotos gefüttert. Larsen selber lebt in Berlin, incognito. In der Hauptstadt und Umgebung produziert er mit einem Stab an Kriegsflüchtlingen Fotos und Wackel-Videos, die Ausschnitte aus dem Krieg in Syrien vorgaukeln. „Am Ende dann, meister Zuwachs an Followern und Freunden: Larsen groß mit Sturmhelm, natürlich steht dick und fett Presse drauf, dazu eine schusssicherer Weste am Leib, hinter ihm ausgebrannte Autos, als Profil ein Schwarz-Weiß-Bild von Larsen im Anzug, feuilletonistisch angehaucht, damit jeder kapiert: Larsen, Kriegsreporter, aber einer mit Stil.“ Larsen ist wieder ganz oben. Und dann folgt der zweite Absturz. Es passt zu dieser literarischen Dekadenzfigur, dass er den Reizen einer Syrerin zum Opfer fällt. Sie lockt ihn mit Facebook-Posen und Skype-Talks in den Nahen Osten. Dort angekommen nehmen ihn Assads Schergen an den Haken.
Recker beschreibt mit „Fake Metal Jacket“ ein Desaster, ohne groß zu moralisieren. Der Reporter Larsen kommt als eitler Superpfau daher, der nicht aufhört seine Räder zu schlagen, wo immer auch man ihm die Gelegenheit dazu gibt. Der Roman rauscht so durch und erschüttert doch. Leseempfehlung.
Next Stop. Und die Frage ist das noch Literatur? „Ein Desaster überlebt zu haben und zu vergessen, dass das Desaster schon geschehen ist, ohne Einsicht auf das Desaster zu blicken und das Desaster zu dramatisieren, als stehe es noch aus, heißt desaströs zu werden.“ Wer sich von solchen Sätzen inspirieren lässt, wird Teju Coles „Blinden Fleck“ lieben. Dieser Text steht auf einer Doppelseite mit einem Foto, das Cole in Ubud, Indonesien, aufgenommen hat. Es zeigt einen Baumstamm, dessen Krone sich als Schatten auf einem weißen Tuch abbildet. Dahinter zeichnet sich ein Regal mit Gegenständen ab. Sind das Devotionalien? Handelt es sich hier um einen Shop? Befinden wir uns hier in der Nähe es Tempels? Der dramatische Text lädt das eher beiläufige Foto auf, ich fange an zu blättern, vor und zurück. Schaue auf die Weltkarte am Ende des Buches: Ubud? Indonesien? Um mich zu erinnern. Gab es 2017 nicht den Vulkanausbruch des Mount Agung, der auch das Urlaubszentrum bedrohte?
Teju Cole, Fotografie-Kritiker des New York Times Magazine, kombiniert auf 340 Seiten 150 Fotografien, die er auf Reisen in alle Welt gemacht hat, mit eigenen Texten. Er wollte die Vibes einfangen, die diese Orte orchestrieren und vernetzen. Entstanden ist ein lyrischer Essay, der sich vor allem „mit den Grenzen des Sehens“ beschäftigt. „Ein Blick offenbart nur einen Bruchteil dessen, was zu sehen ist. Selbst im wachsamsten Auge gibt es einen blinden Fleck. Was fehlt?“ Das Buch springt meine visuelle Seele an, hat mich durch die Texte in zunächst profan scheinende Aufnahmen hineingezogen, die mir dann umso mehr erzählt haben. Dieses Buch ist für Menschen, die befeuert von einem Text auch mal länger vor einem Foto verweilen mögen. Von daher lässt sich dieser Bilderatlas auch als ein Roman des Sehens lesen. Mehr davon.
Last but not least. Beim Ausräumen seines Elternhauses stößt der Fotograf Philipp auf einen Gegenstand, der in der Geschichte seiner Eltern eine entscheidende Rolle gespielt hat. Bei Gert Loschütz „Schönes Paar“ verweise ich ganz einfach mal das Urteil der „ZEIT“: „Meisterlich!“ In Bernhard Aichners Thriller „Bösland“ wohnt das Grauen unter dem Dach. Dort findet sich – ein Foto. „Schwebt wie ein Schmetterling, das Buch, und schlägt zu wie Muhammad Ali“ urteilt die „WELT“. Und dann mogelt sich hier noch ein Nachzügler aus dem Jahr 2015 hinein. „Jagen 135“ von Tobias Sommer. Ein kleiner feiner Band über einen Kriegsfotografen, der als Pensionär auf die Jagd nach dem letzten Foto geht. In einem Selbstmörderwald gerät in er einen Strudel, in der sich alles nur noch um die allerletzte Frage der Menschheit dreht. Dabei lösen sich Fragen nach dem „Wann“ und „Wo“ in Sommers Erzählkunst langsam auf.
Tobias Sommer traf ich übrigens neulich bei Hauke Harder vom „leseschatz“ , diesjähriger Preisträger des Buchblog-Awards in der Kategorie „Allesleser“. Harder hält seine Buchhandlung 52 Wochen im Jahr offen. Sein erlesenes Sortiment und sein Spaß an der Literatur ziehen mich regelmäßig dorthin. „Ungefragt“ rufe ich allen meinen Leserinnen und Lesern zu: Pflegt den unabhängigen Buchhandel!
leseschatz | Erlesenes von Hauke Harder
William Boyd. „Die Fotografin. Die vielen Leben der Amory Clay.“ Roman. Piper. 556 S. Taschenbuch. 12,00 €
https://www.piper.de/buecher/die-fotografin-isbn-978-3-492-31176-2
Sven Recker: „Fake Metal Jacket“. Roman. Edition Nautilus. 128 S. Hardcover 18,00 €
https://edition-nautilus.de/programm/fake-metal-jacket/
Teju Cole: „Blinder Fleck“. Mit einem Vorwort von Siri Hustvedt. Hanser Berlin. 352 S., Hardcover 38,00 €
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/blinder-fleck/978-3-446-25850-1/
Gert Loschütz: „Schönes Paar“. Roman. Schöffling. 240 Seiten. Hardcover 22,00 €
https://www.schoeffling.de/buecher/gert-losch%C3%BCtz/ein-sch%C3%B6nes-paar
Gerhard Aichner: „Bösland“. Thriller. btb. 448 Seiten. Hardcover 20,00 €
https://www.randomhouse.de/Buch/Boesland/Bernhard-Aichner/btb-Hardcover/e481525.rhd
Tobias Sommer: „Jagen 135“. Roman. septime. 288 Seiten. Hardcover 21,90 €
http://www.septime-verlag.at/Buecher/buch_jagen_135.html