Sigrid Neubert zählte zu den wichtigsten Chronisten der deutschen Nachkriegsmoderne. Nur wenige Tage nach Eröffnung ihrer bisher größten retrospektiven Ausstellung ist die bekannte Münchner Fotografin am vergangenen Samstag, den 13. Oktober 2018, im Alter von 91 Jahren in ihrem Alterssitz nahe Berlin verstorben.
Sigrid Neubert zählte zu den herausragenden Architekturfotografinnen der Nachkriegszeit, arbeitete über 30 Jahre intensiv mit den bedeutendsten deutschen Architekturbüros und prägte wie keine andere mit ihren markanten Schwarz-Weiß-Aufnahmen das Bild der modernen Architektur in der Bundesrepublik.
Geboren 1927 in Tübingen als Tochter des Arztes und späteren Anatomieprofessors Kurt Neubert und seiner Frau Margot, zeigte Sigrid Neubert schon früh den Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit, verbunden mit großem Interesse an ihren Mitmenschen und ihrer Umgebung. Sie erhielt ihre Ausbildung als Fotografin von 1948 bis 1954 an der Staatslehranstalt für Lichtbildwesen in München. Neubert arbeitete über fünf Jahrzehnte in München. Zunächst als Werbefotografin tätig, spezialisierte sie sich in den 1950er Jahren auf Architekturfotografie, einer reinen Männerdomäne in der damaligen Zeit. Seit den 1970er Jahren erweiterte Neubert ihr Œuvre um eindrucksvolle Naturbilder, denen sie sich ab 1990 ausschließlich widmete.
Ihr fotografisches Talent wurde schon früh erkannt. Eine ihrer experimentellen Arbeiten zeigte bereits 1953 das Museum of Modern Art in New York in der Ausstellung European Postwar Photography. Aktuell stellt die Alf Lechner Stiftung im Lechner Museum Ingolstadt und in Obereichstätt bis zum 10. Februar 2019 die große Retrospektive Architektur und Natur aus. Die Ausstellung wurde zunächst im Frühjahr 2018 im Museum für Fotografie der Staatlichen Museen zu Berlin präsentiert und umfasst 230 ihrer wichtigsten Architektur- und Naturaufnahmen.
Eng arbeitete die Fotografin mit zahlreichen herausragenden Architekten der Nachkriegs- und Spätmoderne zusammen: Kurt Ackermann, Walther und Bea Betz, Hans-Busso von Busse, Alexander von Branca, Herbert Groethuysen, Hans Maurer und Paul Stohrer gehörten ebenso zu ihren Auftraggebern wie die Österreicher Franz Riepl, Gustav Peichl und Karl Schwanzer. Für letzteren schuf sie 1970 – 1973 jene ikonischen Aufnahmen des BMW-Hochhauses, die in ihrer Prägnanz bis heute beispiellos sind.
Durch ihre intensive Beschäftigung mit den fotografierten Bauwerken, inspiriert durch die neue amerikanische Architekturfotografie der 60er Jahre und ihren passionierten Dialog mit den Architekten, entwickelte Sigrid Neubert einen eigenen fotografischen Stil, mit dem sie das Wesen der Bauwerke zu erfassen vermochte. Strukturen arbeitete sie durch starke Kontraste klar heraus und schon früh band sie Bewohner, Natur und Umgebung ein, was ihren Bildern auch eine große Leichtigkeit verleihen konnte. In der Architektur, so formulierte sie es einmal, wollte sie etwas von der Persönlichkeit der Architekten finden. Ihre kluge Neugierde, ihre Lebenslust und ihr ästhetisches Gespür ermöglichten es ihr, zur wichtigsten Bildchronistin moderner Architektur in Bayern zu werden und diese in ihrer bemerkenswerten Vielschichtigkeit als Dialog von Individuen zu interpretieren.
Ihre Wiederentdeckung in den vergangenen Jahren, die aktuelle Veröffentlichung der Monografie von Frank Seehausen »Sigrid Neubert, Architektur Fotografie der Nachkriegsmoderne« im Hirmer Verlag München, die Aufnahme wichtiger Werkgruppen in die Sammlungen des Architekturmuseums der TU München und der Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin unterstreicht die Bedeutung ihres Werkes. Eine Woche nach Eröffnung der Ausstellung im Lechner Museum in Ingolstadt verstarb Sigrid Neubert in der Gewissheit, dass ihr Werk weiterleben wird.
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