Retrospektiven, Fotogeschichte? Alles alte Hüte, wie viele vielleicht meinen. Nein! Wenn man sie denn lüftet, kommt immer noch etwas dabei heraus. Wozu diese fotografische Selbstvergewisserung gut ist? Wenn Fotografen wissen, was war, können sie ihre gegenwärtiges Tun bereichern. Das meint Hendrik Neubauer. En passant und „Ungefragt“.
Schwimmen wir nicht alle in einer Bilderflut? Als professioneller Fotomensch kann man es nicht mehr hören. Zugegeben, die Lage ist unübersichtlich. Dieser Eindruck verstärkt sich mit dem Blick auf geradezu gigantische Programme von Fotofestivals. Die Phototriennale 2018 in Hamburg hat mit dem Versprechen „320 Artists > 80 Places > 90 Events > 1 Festival.“ Allein der Blick ins Programm kann da schon überfordern. Aber vielleicht ist das auch nur die Perspektive des professionellen Bilderfressers. Der möglichst viel von dem gesehen haben muss, um sich ein abschließendes Urteil bilden zu können. Dem gemeinen Besucher bieten sich noch bis Januar 2019 solche Perlen an wie die Anton-Corbijn-Ausstellung im Bucerius-Forum. „The Living and the Dead“ zeigt 120 Werke, darunter bisher unveröffentlichte Fotografien, freie Arbeiten und ikonische Aufnahmen des Pop wie von Joy Division, David Bowie und U2. „Bei Corbijn ist miteinander verbunden, was in unserer Wahrnehmung selten zusammenkommt“, erklärt Bucerius-Museumsdirektor Franz Wilhelm Kaiser: „die oberflächliche Welt der Stars und die essentiellen Fragen des Lebens“. Die Schau sei nicht einfach nur ein Streifzug durch die Welt des Pop der letzten vier Jahrzehnte. Sie konfrontiert uns vor allem auch mit der Vergänglichkeit des Seins. Ich stehe vor der Aufnahme von Joy Division und stelle mir die Frage, ob Corbijn auch mit einem Schlag berühmt geworden wäre, wenn sich der Sänger Ian Curtis nicht kurze Zeit später umgebracht hätte. Die Ausstellung läuft noch bis Januar 2019. Hingehen!
Wohin einen die sommerliche Nabelschau fotografisch sonst noch so führt? Ich gebe zu, ich habe mich angestrengt und auch in diesem Halbjahr schon jede Menge Fotos gefressen. Und habe dabei angesetzt, wie man so schön sagt. Zum Beispiel in diesem Frühjahr durch die Ausstellung „Café Lehmitz“. Anders Petersen war bei der Eröffnung der neuen FREELENS-Galerie am Hamburger Großneumarkt anwesend. „Das Café Lehmitz war eine Stehbierkneipe, die in den späten sechziger Jahren einem jungen Fotografen namens Anders Petersen als Ort eines fotografischen Initiationsprozesses diente, der hier sein erstes großes Fotoprojekt machte, der sich magnetisch angezogen fühlte zu denjenigen, die aus dem gesellschaftlichen Gefüge gerutscht waren und von denen einige im Rotlichtviertel arbeiteten. Die 1978 erstmals als Buch veröffentlichte Serie hat den schwedischen Fotografen schlagartig bekannt gemacht, hat nie an Kraft verloren und ruft immer noch allerorten Bewunderung hervor.“ Das gab Peter Lindhorst, der Kurator, dem Publikum während seiner Eröffnungsrede mit auf dem Weg. Lindhorst steuerte in seiner Rede auch auf einen wichtigen Punkt zu, der Petersens Arbeit so besonders macht. Der Fotograf sei eben ein Menschenfreund. Und wer Anders Petersen persönlich und seine Arbeit an diesem Abend erleben durfte, der unterschreibt das sofort!
Ansonsten freue ich mich auf ein Buch, in das ich im Frühjahr schon mal hineinschnuppern durfte. Bei einem Treffen mit der Fotohistorikerin Jeannine Fiedler in Berlin bekam ich einen Einblick in „Moholy Album“. Der Steidl-Verlag spricht in seiner Vorankündigung zu Recht von einer
Weltpremiere: Hattula Moholy-Nagy, die Tochter des Künstlers und Bauhausmeisters László Moholy-Nagy, hat für diese Publikation ihr Foto-Archiv geöffnet und zum ersten Mal ist Moholy-Nagys Album von Fotokontakten zu sehen. Es entstand zwischen 1925 und 1937, zwischen Weimar und der Emigration in die USA. Fiedler gibt diese Arbeit nun heraus und ermöglicht mit mehr als 1 000 Fotografien und Illustrationen eine ganz neue Sicht auf den Fotografen Moholy-Nagy. Das Buch erscheint demnächst. Neues Sehen. Neu sehen. Ich freu mich drauf!
Im schönen Mai traf es sich, dass ich bei einem Termin mit Dieter Röseler in Worpswede Einblick nehmen konnte in die Porträt-Basismappe „Minnsche“. Das Projekt ist noch in der Entwicklung. Aber es machte mir selbst noch mal deutlich, wie erhellend der Blick in die Fotogeschichte für zeitgenössische Fotografen sein kann. Röseler hat sich von August Sanders „Antlitz der Zeit“ inspirieren lassen. Sander hat der Gesellschaft vor hundert Jahren einen Spiegel vorgehalten. Nur“Minnsche“ verharrt nun nicht in einer Hommage an Sander. „Nichts ist Anfang des 21. Jahrhunderts so sicher wie die Unsicherheit“, hat der Kunstkritiker Klaus Honnef in Anbetracht der Arbeit bereits konstatiert. Ja, Unsicherheit spiegelt sich bei der Betrachtung in der Serie „Minnsche“ wider. Unsere Arbeitsplätze und unser Broterwerb sind existenziell für den Einzelnen. Nie war die Vielfalt an Beschäftigungen so groß und unüberschaubar, aber auch noch nie war die Unsicherheit so groß wie heute?! Nur urteilten die Menschen unter den Auswirkungen des 1. Weltkrieges und Wirtschaftskrisen in den 1920er-Jahren nicht genauso? Was droht den Menschen heute – Robotik und Künstliche Intelligenz? Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus?
Wie war noch mal die Frage? Hilft den Fotografen der Blick in die Fotogeschichte? Der Blick zurück ist nie Selbstzweck. Und zumindest „Minnsche“ entwickelt auf diesem Weg ein bohrende Fragestellung. Gerade weil die Arbeit sich auf einen Klassiker bezieht und nicht in Epigonentum abdriftet.
So weit erst mal.
Anton Corbijn „The Living and the Dead“
https://www.buceriuskunstforum.de/ausstellungen/anton-corbijn-the-living-and-the-dead/
Peter Lindhorst über Anders Petersen. „Café Lehmitz“
http://www.peterlindhorst.com/2018/02/13/anders-petersen-cafe-lehmitz/
Jeannine Fiedler (Hrsg.). „Moholy Album“.
https://steidl.de/Buecher/Moholy-Album-0607214546.html
Dieter Röseler. „Minnsche“.
https://www.facebook.com/minnsche/
Foto: © Lynn Neubauer