Ein Hollywood-Tycoon kommt zu Fall. Es gab schon Gerüchte über ihn. Und jetzt kennt jeder den Namen. Weinstein. Hendrik Neubauer bekommt die Meldung auf den Tisch: „Boykott gegen Terry Richardson: Der Weinstein-Skandal erreicht die Modebranche.“ Das war doch wohl auch nur eine Frage der Zeit?
Das Internet macht uns noch ganz kirre. Wir sortieren uns ständig neu. Da taucht ein Name auf. Harvey Weinstein. Hollywood. Sexuelle Belästigung. Täglich und ständig neue Enthüllungen. Das zieht Kreise durchs Netz. Hashtags fliegen auf wie Vogelschwärme. #MeToo, Frauen im Netz hashtaggen, dass sie in ihrem Leben schon mindestens einmal belästigt wurden. Schon läuft sie wieder, die Wutmaschine, der Schwarm rottet sich ohne Unterschied zusammen und schreit: „Ich.“ „Ich.“ „Ich auch.“ Es entwickelt sich ein Wirbelsturm, in dem das Unterste nach oben schwappt. Vorgänge, die wir schon fast vergessen hatten, sind auf einmal wieder da. Jahrzehntealte Vorwürfe gegen Terry Richardson bestimmen auf einmal wieder die Schlagzeilen. Wer bis vor ein paar Tagen noch dachte, ach die Filmbranche, „Besetzungscouch und so“, die alte Kiste voller „offener Geheimnisse“, was geht mich das an. Nun, der Skandal ist auch in unserer Branche angekommen oder ist er nur zurück. Der Verlag Condé Nast storniert alle Fotostrecken, die mit Terry Richardson geplant worden sind oder bereits in Auftrag gegeben sind.
„Sex? Was denn sonst? Wozu habe ich denn vorne ein Loch in der Hose?“ Mit diesem Richardson-Spruch begrüsst der Taschen Verlag die Besucher auf der Seite, auf der die Neuausgabe von „Terryworld“ (Originalausgabe, 2004) präsentiert wird. „Wer nahm die Pornoästhetik der 1970er Jahre und machte sie hochglanzfähig? Terry Richardson. Wer erhob Trailerpark-Schlampen zum Trend und den Traktorhut zum unerlässlichen Accessoire? Wieder Richardson. Wer ist gleichermaßen zu Hause in Vogue, Harper’s Bazaar, Purple und Vice? Unser alter Freund Terry. Wer hat das Geld, das er in der Modewelt verdiente, benutzt, um eine nicht jugendfreie Website zu finanzieren? Jawohl, Mr. Richardson. Und wer kann es trotz all dieser Errungenschaften nicht lassen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und vor das eigene Objektiv zu springen? Nun, auch hier sind wir wieder bei Terry Richardson.“ Noch Fragen, im Hause Taschen ist man gerne gut Freund mit Terry. Benedikt und sein Kumpel albern denn auch schon mal vor der Kamera der Pressefotografen mit den Bänden „Big Book of Breasts“ und dem „The Big Butt Book“ herum. Was der Fotograf anstellt, damit Pornosternchen, Supermodels, Transsexuelle, Hinterwäldler, Haustiere und Promis so agieren, wie es sich zum Beispiel auf den Seiten von „Terryworld“ darstellt? Who cares? „Terryworld“ sei eben das Land, in dem Tabus null und nichtig sind und Mode genau zum Sex passt.
Moral? Der STERN weiß über Richardson: „ Er ist jemand, der Grenzen nicht nur überschreitet, sondern überrennt und uns unsere Moral überdenken lässt.“ Schön wäre es gewesen mit dem Überdenken. Aber Tom Jacobi, der 2003 für die Art-Direktion des 90-seitigen Stern-Spezial verantwortlich zeichnete, geriet derartig ins Schwärmen: „Die einen sind entsetzt, die anderen feiern Richardson, weil er Sex unbekümmert, spontan und voller Ironie zeigt wie kein anderer Fotograf. Eines hat uns die Geschichte der Fotografie gelehrt: Wer etwas bewegen will, wird immer´anstößig´ sein. Terry Richardson ist sicher ´anstößig´ – und einer der begehrtesten Fotografen dieser Zeit.“
Richardsons Schnappschuss-Äesthetik schien danach einen unaufhaltsamen Aufstieg hinzulegen. Er erhielt unzählige Mode- und Werbeshootings. Gegenwind bekam er auf großer Bühne das erste Mal 2010. Das dänische Model Rie Rasmussen erhob Vorwürfe gegen den Fotografen. Bis 2014 mehrten sich die Stimmen. Von Übergriffen und Handgreiflichkeiten war die Rede. Die Öffentlichkeit bekam langsam eine Vorstellung davon, was alles so am Set abgeht, wenn Richardson fotografiert. Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, blättert einfach mal in „Terryworld“ oder googlet: Terry Richardson Nude Archives.
Die Empörungswelle ebbte jedoch ab. 2016 wurde der Fotograf Vater von Zwillingen und sein business lief as usual. Aufgescheucht durch die Schlagzeilen habe ich am 24. Oktober 2017 die halbstündige us-amerikanische Talkshow „Majority Report“ gehört, in der ein ehemaliges Model darüber spricht, wie sie 2006 Richardson mit der Hand befriedigt hat. Danach oder davor, das ist aber auch vollkommen schnurz, soll Richardson sie um den Tampon gebeten haben, den sie in Gebrauch hatte. Um sich einen Tee zu kochen. Diese Art von Enthüllungen machen dem Ruf Richardsons alle Ehre. Er ist nun mal der Punk und Pornograf unter den Modefotografen und genau das hat seine Karriere befördert. Der große Ungewaschene, der sich um keine Konventionen kümmert. Wenn sich jemand bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten und vor allem auch im Studio die Kleider vom Leib reißt und sein Geschlechtsteil präsentiert, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn das die eine oder andere zarte Seele verletzt. Seit Jahren bestreitet der Fotograf alle Vorwürfe und kokettiert sogar noch damit.
Ach, Terry, der alte Bumskopp. Er soll doch tun und fotografieren, was er will. Wenn es denn unter Erwachsenen und in gegenseitigem Einverständnis passiert. Den Frauen sei dringend empfohlen, Terry bei der nächsten Übergriffigkeit einfach mal ins Gemächt zu treten. Oder wie wäre es mal mit einer ordentlichen Klage.
„Terryworld“
https://www.taschen.com/pages/de/catalogue/sex/all/42401/facts.terry_richardson_terryworld.htm
stern FOTOGRAFIE Nr. 34 / 2003
http://aboshop.stern.de/stern-fotografie-nr-34-2003.html
The Majority Report with Sam Seder. 24.10.2017
https://www.youtube.com/watch?v=-AyGVSMiXv0
SPIEGEL. „Onkel Terrys Welt“ – Der Artikel listet alle Vorwürfe auf.
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/terry-richardson-conde-nast-a-1174738.html
Foto: © Michael Kneffel