Alle Jahre wieder. Richtet die Stiftung World Press Photo aus Amsterdam einen Wettbewerb aus. Gekürt werden die weltbesten Pressefotos des vergangenen Jahres. Hendrik Neubauer hat ein wenig Zeit gebraucht, erklärt sich aber „Ungefragt“ einverstanden mit dem Siegerfoto.
Ich sitze bei M. aus H. in der Küche und trinke Espresso. Stefan schreibt, slammt, veranstaltet Kultur. Er ist immer da, wo Kultur gemacht und präsentiert wird. Er steht auf Bühnen, besucht Vernissagen, ist Dauergast in Museen. Er spricht mich darauf an, dass ich auf Facebook vor geraumer Zeit das World Press Photo des Jahres 2017 gepostet habe. Ich zeige mich verwundert, das sei doch schon Urzeiten her. Ja, aber er werde dieses Bild nicht mehr los. Ja, schlimm, das Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara im Dezember 2016, fährt er fort. Das Bild sei wie ein Film-Still von Tarantino. Ein Foto wie in Tritt in die Eingeweide. Wenn er jetzt irgendeinen White Cube betrete, dann hätte er jetzt diesen schnieken Fritzen mit der Waffe vor Augen. Hättest du den Typen für einen Terroristen gehalten? Der Terrorismus sei in der Kunstwelt angekommen. Er fühle sich jetzt nicht mehr sicher an einem Ort, an dem er vorher alles verhandeln konnte, an dem alle ohne Gefahr für Leid und Leben auch Unbequemes, Dreckiges, Unkorrektes sagen konnten.
Ich unterschreibe diese Ansichten, immer noch, auch wenn unser Gespräch auch schon wieder ein paar Tage her ist. Die Jury, die das Foto des türkischen AP-Fotografen Fotograf Burhan Ozbilici von der Nachrichtenagentur AP mit dem renommierten Preis ausgezeichnet hat, mag ich nur beglückwünschen. Die Jury würdigte das Foto als ein „explosives Bild, das den Hass in unserer Zeit ausdrückt.“ Ich halte ja die Begründung der Jury, uns den Hass in all seinen zeitgenössischen Facetten, vorzuhalten, für ein ernstzunehmendes Argument. Vor allem weil dieses Hass-Bild so aus der Reihe tanzt. Es zeigt keine pixeligen Überwachungskamera-Bilder, abfotografierte Passbilder oder machetenschwingende Ganzkörpervermummte.
Das Siegerbild verwirrt in seiner Künstlichkeit. Gestochen scharf steht dort ein junger gutaussehender Mann in einem schmalen schwarzen Anzug, die Waffe erhoben, den Zeigefinger ausgestreckt, das Gesicht verzerrt, er scheint in die Kamera zu schreien, eine an sich schon unangemessene Handlung in einem White Cube. Hinter ihm liegt das Opfer. Von der Statur im Vergleich zum Täter ein Fleischberg, würde er gleich wieder aufstehen, könnte man sagen ein Bär von Mann. Wir wissen, er wird nicht wieder aufstehen, das lehren uns die Ereignisse vom 19. Dezember 2016. Das hier ist kein Film-Set. Dieser Täter geht über Leichen, er hat sein Angriffsziel zur Strecke gebracht. Das ist harter Stoff. Der verstärkt wird durch die Galeriekulisse, weiße Wände, auf die Exponate ausgerichtetes Licht. Brian O‘Doherty hat „Inside the White Cube“ die Ideologie der quasiheiligen Kunsthalle beschrieben, die nach strengen Gesetzen fast wie eine mittelalterliche Kirche aufgebaut sei. Die ideologisch gegen äußere Einflüsse abgeschottet sei. Wer O‘Doherty gelesen hat, der versteht, dass sich selbst der Betrachter im White Cube als Eindringling empfindet. Und jetzt spielt sich hier im White Cube ein derartiger Krimi ab. Im Hintergrund fährt die konventionelle Hängung belanglose Reisefotografie ab. „Von Kaliningrad nach Kamschatka – aus den Augen eines Reisenden“ hieß die Ausstellung, die an diesem Abend eröffnet werden sollte. Kurz scheint die Frage auf, was heute so in Galerien und Museen an den Wänden hängt, hier war die Auswahl sicherlich politisch opportun bedingt. Und ganz weit hinten in der Ecke liegt die Brille des erschossenen Botschafters. „Die Brille braucht er nicht mehr“, schrieb einer meiner Facebook-Freunde in den Kommentaren zu meinem Post. Ich fand das respektlos gegenüber dem Opfer, menschenverachtend und einfach nur brutal. Allerdings nur im ersten Moment. Wie lange brauchen wir unsere „Brillen“ noch? Der Terror ist einem meiner Schutzräume angekommen. Wenn ich das Foto betrachte, bin ich auf gewisse Art immer noch fasziniert und zugleich erschüttert. Und mich beschleicht ein Gefühl. Wir müssen diesen Hass und alle anderen Formen des Fanatismus und der Intoleranz endlich als gegeben hinnehmen. Leider hat es sich eingebürgert, über die „Schere im Kopf“ Bilder auszusortieren, die die öffentliche Meinung brüskieren, auf falsche Gedanken und in Schieflagen bringen könnten. Gesichter von Terroropfern verpixeln, wen wollen wir da schützen, was bringt es, die Angehörigen in Watte zu packen? Neben Denkverboten gibt es auch längst schon Bildverbote. „Wieso müssen wir zu den Protagonisten unserer Zeit die Mörder machen?“ Warum, so fragt Peter Matthias Gaede weiter, zeige das Foto des Jahres nicht den Mut und die Zivilcourage, die es auch gibt? Meine Antwort an den ehemaligen GEO-Chef wäre, weil wir allzuoft schon Bilder, die Mut und Zivilcourage zeigen, hervorgehoben und präsentiert haben. Weil in diesem Strom von Bildern auch mal Stromschläge eingebaut werden müssen, die den Mahlstrom der Demut stoppen. Es mag unter Medienmachern einen Konsens geben, so wenig Täterbilder wie möglich abzubilden. Um ihre Taten nicht noch größer zu machen, als sie eh schon sind. Weil sie genau auf diese Medialität abzielen. Sie machen sich die Zivilgesellschaft und deren Medien, die sie bis aufs Blut bekämpfen, zunutze. Man kennt diese Argumente. Aber was ist, wenn aller Mut und Zivilcourage und deren Abbilder sich langsam aber sicher abnutzen. Die Wahl war richtig. Wir sollten dieses ikonische Foto als Warnung auffassen.
Im aktuellen ProfiFoto-Heft werden die Gewinnerbilder des World-Press-Photo-Wettbewerbs abgebildet. Und ich frage mich nicht nur bei dem Foto von Ozbilici. Wer hat im Jahr 2016 Regie geführt? Mir fällt David Lynch ein. M. aus H. tippt auf Quentin Tarantino.
P.S. Irgendwo auf Facebook war zu lesen: Die Entscheidung sei widerlich und vor allem deswegen besonders eklig, da während der Ausstellungeröffnung die Leute mit dem Weinglas vor den Bildern und ebendiesem Siegerbild ständen. Was ist daran eklig, frage ich mich. Fühlt sich da jemand in seiner Selbstzufriedenheit gestört? Mir gefällt die Vorstellung, dass der Person der Wein nach dem Betrachten des Exponates nicht mehr schmecken könnte. Mir stellt sich eher die Frage, ob Verlagsfoyers oder Festivals noch die richtigen Orte sind, um die Siegerfotos des Wettbewerbs auszustellen. Hier erreichen diese doch nur wieder die üblichen Fotoverdächtigen. Im öffentlichen Raum präsentiert entwickelten einige von ihnen vielleicht sogar Störkraft, aber das wäre dann schon wieder zu viel …? Gab es da nicht eine italienische Pulli-Firma, die mit hartem Fotojournalismus geworben hat!
World Press Photo. Die Siegerfotos 2017
http://www.profifoto.de/allgemein/2017/02/13/die-besten-pressefotos-2017/
Brian O‘Doherty. Inside the White Cube.
https://monoskop.org/images/8/8e/ODoherty_Brian_Inside_the_White_Cube_The_Ideology_of_the_Gallery_Space.pdf.
Diskussionskultur in Deutschland
https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/denkverbote-statt-debatte-haben-die-deutschen-das-streiten-verlernt-ld.111884
Peter Matthias Gaedes Gastbeitrag auf meedia.de
http://meedia.de/2017/02/14/peter-matthias-gaede-ueber-das-world-press-photo-dieses-bild-ist-die-falsche-wahl/
Benetton-Fotograf Toscani „Pullover sind mir scheißegal!“
http://www.spiegel.de/einestages/benetton-schockwerbung-in-den-neunzigern-pullover-sind-mir-scheissegal-a-1040595.html
Foto: © Michael Kneffel 2016