Seit Tagen geistert wieder eine Foto-Ikone des 20. Jahrhundert durch das Netz. Das „Afghanische Mädchen“ wurde 1984 von Steve McCurry aufgenommen, 2002 traf er Sharbat Gula als Erwachsene wieder und jetzt erreichen uns Nachrichten, dass die Afghanin wegen eines Passvergehen in Pakistan inhaftiert sei. Hendrik Neubauer begibt sich auf die Spur des Portraits.
Steve McCurry hat das Foto 1984 in einem afghanischen Flüchtlingscamp geschossen. Das Portrait erschien im Juni 1985 auf dem Cover von National Geographic. Wer das Foto sieht, wird von den grünen Augen des Mädchens automatisch angezogen. Dieser Blick ist von einer Intensität, die schwer zu beschreiben ist. Vor gar nicht langer Zeit machte dieses Foto mal wieder Furore. Es ging nicht nicht um Sharbat Gula oder Afghanistan oder womöglich ihr aktuelles Schicksal. Es wurde im Rahmen der sogenannten Authentizitätsdebatte verhandelt. Pünktlich um die Verleihung des World-Press-Awards herum entbrennt Jahr für Jahr die Diskussion, welche Freiheiten sich ein Fotojournalist in der digitalen Dunkelkammer herausnehmen darf. Ein wahrer Shitstorm ergoß sich zuletzt über Steve McCurry. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass das afghanische Mädchen nach der Digitalisierung ein wenig von Staub und Dreck gesäubert wurde, ein Auge wurde etwas entspiegelt, die Postervariante sieht cleaner aus. Ausgehend von diesem Lapsus haben eifrige Fotoenthusiasten weiter geforscht und Photoshop-Manipulationen an weiteren McCurry-Bildern gefunden. Das lässt sich im einzelnen alles nachlesen.
Zurück zu diesem Blick, zurück zu diesen Augen. Dieses Foto kenne ich nun schon seit Jahrzehnten. Wir hatten die Sorte Bekanntschaft, von denen man viele anhäuft über die Jahre, jedenfalls wenn man mit wachen Augen durch die Welt läuft und sich für die Zeitgeschichte interessiert. Dieser Blick steht für den Bürgerkrieg in Afghanistan, der seit über 30 Jahren dort herrscht und die internationalen Interventionen, die bisher nicht dazu führten, das Land zu befrieden. Und jetzt trifft er mich wieder in meiner Timeline auf Facebook. Der Fall wird wieder konkret. Die weltberühmte Frau ist im pakistanischen Peshawar festgenommen worden. Ihr drohen sieben bis 14 Jahre Haft sowie eine Geldstrafe von bis zu 5000 Dollar. Sie habe mit falschen Papieren in Pakistan gelebt, das jedenfalls wirft die pakistanische Registrierungsbehörde Nadra der Afghanin Sharbat Gula vor.
In Pakistan sind nach UN-Angaben 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan registriert. Hinzu kommen schätzungsweise eine Million nicht registrierter Flüchtlinge. Seit Jahren setzt ihnen die Regierung in Islamabad im Land Fristen für ihre Heimkehr, die Abschiebung wurde aber immer wieder verschoben. Die aktuelle, großangelegte Kampagne, der auch Gula zum Opfer gefallen ist, schürt die Furcht der Flüchtlinge, dass die derzeit geltende Frist für kommenden März könnte endgültig sein.
Schon droht der nächste Shitstorm gegenüber dem Fotojournalisten McCurry. Auf seiner Facebook-Seite schreibt er 27. Oktober: „Sharbat Gula has been the symbol of refugees for decades. Now she has become the face of unwanted migrants. As a widow, she has endeavored to raise her four children alone. She represents all brave women and men who will endure any pain and hardship to protect the most preciousthing they have – their children.“ Dann folgt die Ankündigung, dass sein Büro einen prominenten Menschenrechts-Anwalt in Pakistan kontaktiert habe, der sich nun des Falles annehmen werde. Innerhalb weniger Stunden gab es Hunderte von Kommentaren. Viele loben das Engagement McCurrys. Gleichzeitig sind die Hater da. Steve McCurry und National Geographic hätten sich mit diesem Foto die Taschen vollgemacht, da käme dieses Engagement doch reichlich spät. Im Nu kommen auch die Krieger hinter dem Ofen hervor: Der Fotograf möge sich um seinen eigenen Kram kümmern und sich aus den pakistanischen Angelegenheiten raushalten.
Leute, ich sage das ja ungefragt. Aber dafür umso lauter. Habt ihr sie noch alle? Was sollen die Fotojournalisten denn noch tun? Immer wahrhaftig berichten und dann auch noch die Welt retten. Da ist sie ja wieder. Die globalisierte Community, die sich in den sozialen Netzwerken auskotzt, ganz schnell Schuldige für irgendetwas ausmacht und diskutiert bis zum Sankt Nimmerleinstag, über das was eigentlich sein sollte.
Ich danke Fotografen wie Steve McCurry, dass sie von ihren Reportage-Reisen Fotografien wie das „Afghanische Mädchen“ mit nach Hause bringen. Momentan zeigen Medien weltweit dieses Foto und reden über den Fall. Dass McCurry Jahrzehnte später das Mädchen nach westlichen Vorstellungen „geschminkt“ hat und eine Postervariante, weil die sich vielleicht besser verkauft, finde ich auch unredlich, aber so what! Dem visuellen Berichterstatter aber jetzt auch noch die Rettung der Welt aufzuhalsen? Das geht eindeutig zu weit und sprengt die Grenzen des Jobs eines Fotojournalisten. Vor allem weil sich Steve McCurry ja engagiert. Auch wenn sich der Fotograf heute als „Storyteller“ und nicht mehr als Journalist sieht, die Geschichte der damals 12-Jährigen ist erzählt und wirkt mehr als 30 Jahre später noch immer. Das Bild ist eine wahre Ikone.
Kshitij Nagar. Eyes of the Afghan Girl: A Critical Take on the ‘Steve McCurry Scandal’ 7. Juni 2016
http://petapixel.com/2016/06/07/eyes-afghan-girl-critical-take-steve-mccurry-scandal/
Steve McCurry. Online Postershop.
http://stevemccurry.com/posters
„The ‚Afghan Girl‘ photographer faked some of his photos. Does it matter?
21. Mai 2016“
http://www.businessinsider.com/steve-mccurry-photo-editing-scandal-2016-5?IR=T
Facebook Steve McCurry Official Site (Stand 27. Oktober 2016)
https://www.facebook.com/stevemccurrystudios/?ref=ts&fref=ts
Foto ganz oben: © Michael Kneffel 2016
Fotos Afghan Girl: © Steve McCurry