In seiner Kolumne stolpert Hendrik Neubauer über digitale Pissmarken der Amateure und Zumutungen der Profis in der Street Photography und kratzt dabei die Frage: Ist das überhaupt ein Genre?
„Heute existiert alles, um in einer Fotografie zu enden“, das schrieb Susan Sontag 1977 in ihrem Buch „Über Photographie“. Wer durch die Metropolen läuft und dabei zuschaut, wie die Generation Smartphone über sich selbst hinaus ihre Umwelt scannt, der findet diesen Satz bestätigt. Als ob es kein Morgen gäbe, wird auf der Straße geknipst. Dabei entstehen meist digitale Pissmarken, die dem Betrachter entgegenschreien: „Ich war hier.“ Wem das nicht reicht und wer der Nachwelt in ansprechenden Fotos beweisen möchte, das dort auch ein paar Menschen durch das Bild liefen und eine Menge Gebäude herumstanden? Im Netz finden sich an allen Ecken Apps und Tipps für Street Photography mit dem Gerät, das eigentlich mal ausschließlich zum Telefonieren diente. Und selbst Fotojournalisten der New York Times leiten iphone-User an, wie sie das Optimum für ihre Straßenfotos herausholen können.
Street Photography, kann das jetzt eigentlich jeder? Das ist eine hohe Kunst, wenn man Rolf Nobel glauben darf. Der Hannoveraner Professor, dem in diesem der Dr.-Erich-Salomon-Preis der DGPh verliehen wird, bezeichnet dieses Genre als „sehr ungeschminkte, authentische Fotografie.“ Man müsse auf Momente reagieren, die wie im Flug vergehen. Konstellationen gebe es immer nur ein Mal, das verlange schnelles und spontanes Handeln. „Hinzu kommt: Es reicht nicht aus, nur den einen magischen Moment zu erfassen“, so Nobel. „Es ist eine unglaublich anspruchsvolle Fotografie.“
An den Anspruch glaubt sicherlich auch noch Andreas Herzau, ein renommierter deutscher Street Photographer. In seinem Blog schrieb er zu dem Begriff : „Strassenfotografie. Ein bisschen klingt es immer wie Strassenköter und entbehrt daher auch den Glanz, den Fotografie gerne vor sich herträgt.“ Die Straße sei allerdings nur die Bühne, die Menschen sind die Akteure und die Stadt bildet eine eindrucksvolle Kulisse. „Man kommt als Streetphotographer dabei nicht umhin politisch zu sein, da man immer auch die gesellschaftlichen Widersprüche mit einfängt und – ob nun gewollt oder nicht – mit seinen Bildern transportiert.“ Hier wird deutlich, Herzau geht es in seinen Straßenfotos nicht um das Flanieren mit der Kamera und dem Malen mit Licht in den Straßen einer x-beliebigen Metropole. Bereits hier setzt er sich ab, um sich dann vor wenigen Wochen in einem Artikel zu verabschieden: „Streetphotography gibt es nicht – zumindest nicht als ernstzunehmende fotostilistische Kategorie.“ Dabei beerdigt er auch gleich noch eine Konstituente dieser Genres: „den magischen Moment“ oder wie er es nennt „den richtigen Augenblick“. „Das ist mit wenigen Ausnahmen Quatsch.“ Adieu, Henri Cartier-Bresson.
Welch Sinneswandel? Eigentlich nicht, denn im Artikel bezeichnet Herzau seine Art zu arbeiten auch als „Soziologie mit fotografischen Mitteln“. Man lese das in Verbindung mit seinem Verweis auf den Boom von Webseiten, Foren und Plattformen, „die sich nur dieser scheinbaren Stilistik in der Fotografie widmen (…), um sich dann selbst über das so geschaffene Label in die Nähe dieser Ikonen der Fotogeschichte zu stellen.“ Herzau sieht den ehemals ehrwürdigen Begriff offensichtlich diskreditiert.
Das könnte man jetzt unter „Beleidigtsein“ abtun. Aber ist es für professionelle Fotografen nicht an der Zeit in der digitalen Bilderflut, sich und die eigene Arbeit neu zu positionieren und sich abzugrenzen? Auch Begrifflichkeiten kommen in die Jahre und können durch die Rahmenumstände in Schieflage geraten. Das trifft sicherlich auch auf die künstlerische Dokumentarfotografie zu. Künstlerinnen und Künstler mögen die Demokratisierung des Bildes als Verflachung um sie herum erfahren. Die Masse der Blder erschlägt die „guten Bilder“, verflüchtigt den individuellen Blick. Soziale Medien wie Instagram sind zu einem reißenden visuellen Fluß geworden oder ist es nicht längst schon ein Ozean? Sieht in diesem Riesen-Teich nicht alles gleich aus? Wer lehrt uns zu unterscheiden?
Ein weites Feld, deswegen zurück zur Frage: Street Photography, kann das jeder, denn Zugang zum öffentlichen Raum hat ja auch jeder. Rolf Nobel verweist auf den Punkt, „(…)an dem viele scheitern: diesen aggressiven Akt hinzubekommen, den Straßenfotografie mit sich bringt.“ Straßenfotografie lebt von der Nähe, die Fotografen schmeißen sich geradewegs ins Getümmel der Großstadt, nichts anderes zeigen auch die bekannten Herzau-Fotos aus New York. Um ein Gefühl für die teilweise sehr extreme Arbeitsweise zu bekommen, möge man sich das Video anschauen, das Bruce Gilden bei der Arbeit auf den Straßen in Manhattan zeigt. Mit dem Blitzgerät in der einen und der Kamera in der anderen Hand fällt der Magnum-Fotograf Passanten an und schießt sie ab. „Warum haut ihm keiner auf die Fresse?“, fragte ich den Chefredakteur bei der Besprechung des Themas. Thomas Gerwers und ich wussten keine Antwort darauf. Nichtsdestotrotz mag ich diese Gilden-Porträts.
Apropos „Auf die Fresse“. Von Zeit zu Zeit wehren sich Menschen dann doch, wenn ihre Konterfeis von Straßenfotografen veröffentlicht werden. So wurde der Fotograf Espen Eichhöfer verklagt, weil er die Aufnahme einer Passantin im Rahmen einer Ausstellung gezeigt hat – also im Kunstkontext. In der ersten Instanz hat das Landgericht Berlin festgestellt, dass die Schmerzensgeldansprüche der Klägerin unbegründet sind. Jedoch habe Espen Eichhöfer, so das Gericht, die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Frau verletzt. Der Fotograf hat eine Verfassungsklage eingereicht, der bisher noch nicht stattgegeben wurde. Den Gang vor das Verfassungsgericht hat der Fotograf per Crowdfunding finanziert und abgesichert. Er wartet auf die richterliche Entscheidung, wie er mir in einer Mail vom 18. April 2016 mitgeteilt hat. 528 Unterstützer brachten 18.075 Euro zusammen, um eine höchstrichterliche Entscheidung über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Street Photography herbeizuführen.
Und über das Genre an sich reden wir später noch mal. Gerne auch wieder ungefragt.
iPhone 6 Camera Tips From NYT Photographer | Molly Wood | The New York Times
https://www.youtube.com/watch?v=sdqDlm5nFwU
„Street Photography“ ist nah dran am Menschen. Interview mit Rolf Nobel (2011)
http://www.welt.de/welt-kompakt/digitalaward/article7573946/Street-Photography-ist-nah-dran-am-Menschen.html
Andreas Herzau. Street Photography.
http://blog.andreasherzau.de/streetphotography/
Andreas Herzau. Ja, was ist sie denn, die Straßenfotografie?
https://www.freelens.com/blog/tag/andreas-herzau/
Bruce Gilden. WNYC Street Shots.
https://www.youtube.com/watch?v=kkIWW6vwrvM
Crowdfunding Espen Eichhöfer
https://www.startnext.com/streetphotography
Text: Hendrik Neubauer © 2016
Foto: Michael Kneffel © 2016