Hundert könnten es diesmal wieder sein. Aber es ist nicht die Zahl der Ausstellungen, die PHotoESPAÑA längst zu einem festen Termin im Festivaljahr gemacht haben. Es ist die thematische Vielfalt, die museale Qualität, der Mut, weniger Bekanntes zu zeigen, das Bekenntnis zum Nachwuchs, das Madrid jährlich ab Anfang Juni zu einem Hotspot des Mediums macht.
Eigentlich sollte man sie kennen, wenigstens dem Namen nach. Schließlich war sie mit ihrem inzwischen ikonischen Bild She is a Tree of Life Teil der legendären Ausstellung The Family of Man. Sie war Mitglied der Gruppe f.64 um Ansel Adams und Edward Weston und stand der New Yorker Photo League um Sid Grossman nahe. Kein Geringerer als Alfred Stieglitz trat vor ihre Kamera. Auch Louise Dahl-Wolfe, Imogen Cunningham oder W. Eugene Smith hat sie porträtiert, um nur die Prominenteren zu nennen. Und doch ist Consuelo Kanaga, 1894 in Astoria, Oregon geboren, 1978 (vermutlich) in New York verstorben, bis heute eine weitgehend Unbekannte oder besser: Übersehene geblieben. Die Gründe liegen auf der Hand. Sie war eine Frau. Sie war links. Und sie pflegte Umgang mit Afro-Amerikanern, beteiligte sich an antirassistischen Protest- und Friedensmärschen und begriff Bildnisse ihrer schwarzen Landsleute als zentrale Aufgabe ihres künstlerischen Wirkens – dies alles, jedenfalls im Amerika der fünfziger und sechziger Jahre – nicht gerade eine Eintrittskarte in die fotografische Hall of Fame. „Unkonventionell meint für gewöhnlich, dass man Regeln bricht“, brachte es Dorothea Lange auf den Punkt. „Consuelo kannte keine.“
Die materialreiche, überlegt kuratierte Werkschau zu Consuelo Kanaga in der Fundación MAPFRE war sicher eine der großen Überraschungen dieser nunmehr 27. Ausgabe des Festivals PHotoESPAÑA. Tatsächlich hatte fast die Hälfte der erhaltenen (und heute im Brooklyn Museum New York aufbewahrten) Vintage Prints den Weg über den Atlantik gefunden, sämtlich kleinformatige Abzüge von allerdings sublimer Qualität. Thematische wie formal-ästhetische Parallelen zu Berenice Abbott (und ihren Stadtlandschaften), zu Walker Evans (und seiner Affinität zu Billbords) oder zu Lewis Hine (und seiner Sozialenquete) sind nicht zu übersehen, wobei Kanaga in vielen Fällen ihren männlichen wie weiblichen Kollegen vorausgeeilt war. So ähnelt Langes Migrant Mother von 1936 in seiner Ikonografie verblüffend einem bereits 1922 aufgenommenen Gruppenporträt von Kanaga. Das eine Bild wurde zur Ikone. Das andere ist unbekannt geblieben.
(Fotos oben: Fundacion Mapfre, Consuelo Kanaga)
Geografie der Apartheit
Ebenfalls in der Fundación MAPFRE eine in Zusammenarbeit mit dem Art Institute of Chicago erarbeitete Schau zu David Goldblatt, nebenbei die erste große Ausstellung seit dessen Tod 2017. Sein Ziel sei es gewesen, „die grausame Geografie der Apartheit möglichst ehrlich und direkt zu dokumentieren“, so der 1930 in Randfontein geborene Spross jüdischer Einwanderer, wobei sich Goldblatt hütet, in Propaganda abzugleiten, stattdessen seine Kritik am System in auf den ersten Blick unspektakuläre Reportagen, einfühlsame Porträts oder überwältigende Landschaften in Farbe mit allerdings subkutaner Botschaft kleidet.
Nicht weit ist es von der Fundación zum Circulo de Bellas Artes, wo man auf Masahisa Fukase (1934–2012) gespannt sein durfte. Dessen zwischen 1975 und 1986 erarbeiteter Zyklus Ravens (Raben) gehört ja längst zu den bedeutendsten Hervorbringungen japanischer Fotografie im 20. Jahrhundert. Seelisch getroffen durch die Trennung von seiner Frau hatte Fukase über Jahre das Treiben der schwarzen Vögel mit der Kamera verfolgt, um am Ende zu einer großen, stimmigen Metapher für eine tiefe Lebenskrise zu gelangen. In der Sala Minerva zu sehen waren allerdings nur Neuabzüge sowie Ausgaben der Zeitschrift Camera Mainichi, die Fukases Zyklus seinerzeit erstmals publiziert hatte.
Wo steht die spanische Fotografie heute? fragte Kurator Alejandro Castellote eine Etage höher in der Sala Goya und gab insofern eine pointierte Antwort, als er durch die Bank konzeptionelle, medienübergreifende Positionen zu einem dicht gehängten Parcours verschmolz – durchweg Arbeiten in deutlicher Nähe zur Skulptur, zur Plasik oder Installation. Das konventionelle, das dokumentarische Bild, so scheint die Botschaft, hat ausgedient, das Finden wird durch das Erfinden abgelöst. Dazu passte denn auch der vom Energieversorger Enaire an die spanische Künstlerin Paloma Navares vergebene Preis für deren Lebenswerk, das tatsächlich die Fotografie nur zum Vorwand nimmt, um raumgreifende Installationen von allerdings enormer Sogwirkung zu generieren (Real Jardín Botánico). Wer Reste des Dokumentarischen (im weitesten Sinne) suchte, wurde immerhin in der Galerie Ponce+Robles fündig. Drei Fotografinnen, nämlich Cristina de Middel, Lúa Ribeira und Cristina García Rodero, allesamt Magnum-Mitglieder, zeigten hier die farbstarken Ergebnisse einer gemeinsamen Exkursion nach Valencia, wo man sich aus unterschiedlicher Perspektive der Frühlings-Festivitäten annahm. Vor allem die ironisch unterfütterten Bildfindungen von García Rodero, bekannt durch ihren Zyklus España oculta, vermochten hier zu überzeugen.
Fotograf und Dichter
Mit Elliott Erwitt starb Ende November 2023 der bis dato dienstälteste Magnum-Fotograf, weniger Bildjournalist, wie die Frankfurter Allgemeine in ihrem Nachruf unterstrich, vielmehr „Erzähler, vielleicht sogar ein Dichter“. Man kennt seine Hundefotos, komisch, tragisch, augenzwinkernd. Dass Erwitt vor allem ein kluger Beobachter war, der sich Cartier-Bressons Suche nach dem „Entscheidenden Augenblick“ auf ganz eigene Weise zu eigen machte, zeigte auf überzeugende Weise die umfangreiche, in drei Kapitel (Menschen, Tiere, Formenspiele) gegliederte Schau, bei der man erfreulicherweise einmal nicht auf blasse Neuabzüge setzte, vielmehr auf den Charme der kleinformatigen Arbeitsprints aus Erwitts New Yorker Studio vertraute (Fundación Canal).
PHotoESPAÑA war von Anfang an international ausgerichtet, zugleich der spanischen, auch lateinamerikanischen Fotografie in besonderer Weise verpflichtet. Wer kannte bis dato schon Namen wie Ramón Masats, Ricard Terré oder Xavier Miserachs, sämtlich Mitglieder der Fotografengruppe Afal, deren lebendige, innovative Fotografie in Zeiten der Franco-Diktatur allerdings keine Chance hatte, über die Grenzen Spaniens hinaus wahrgenommen zu werden. Zu Afal gehörte auch Gonzalo Juanes (1923–2014), dem man im beispielhaft zu einem Art Space umgebauten historischen Wasserturm Canal de Isabel II auf sage und schreibe vier Etagen eine beeindruckende Werkschau eingerichtet hatte. Standen zunächst und unter dem Einfluss von Robert Frank und William Klein (Freunde hatten die einschlägigen Bücher nach Spanien geschmuggelt) schwarz-weiße Straßenszenen im Zentrum seiner Arbeit, so wandte er sich schon bald der Farbe zu mit wiederum Straßenszenen, Landschaften, Stadtlandschaften. Was mit ein Grund dafür sein dürfte, dass sein Beitrag weitgehend vergessen ist: Kodachrome ließ sich ja bestenfalls projizieren, sieht man vom für spanische Kamerakünstler unerreichbaren Dye Transfer-Verfahren ab.
Kampf um Queue und Kugel
Der Farbe verpflichtet sieht sich bis heute der 1947 in der Ukraine geborene, heute in Spanien lebende Boris Savelev. Frühe Arbeiten in Schwarz-Weiß lassen an Antanas Sutkus denken, die Farbe ruft Saul Leiter in Erinnerung, jedenfalls geht es auch Savelev um Stimmungen, Farbakzente, Monochromien, Farbkontraste (Espacio Cultural Serrería Belga).
Was macht man mit einem heimatlosen Koffer aus den 1930er Jahren, der über Umwege im Museo Nacional de Artes Decorativas landet? Man öffnet ihn und findet: Den bildhaften Nachlass eines gut gestellten anonymen bürgerlichen Paares, wobei sich zu den üblichen Hochzeits- und Familienfotos, zunächst versteckt, im damaligen Sinne Pornografisches gesellt. Madrid um 1930, so Kurator David Trullo, war eine ausgesprochen westlich orientierte Stadt, vergleichbar mit Paris oder Berlin. Sexuelle Orientierung in allen möglichen Spielarten war geduldet, dies ist denn auch der Hintergrund für alle möglichen erotischen Inszenierungen aus dem besagten Koffer. Dass das Ehepaar Spanien mit dem Bürgerkrieg womöglich fluchtartig verlassen hat, wäre eine Erklärung für diese seltsame „Verlassenschaft“.
Ein klassisches Billardzimmer im Museo Nacional del Romanticismo bildete gedanklich den Ausgangspunkt für eine Arbeit, die das Künstlerpaar Laure San Segundo und Alejandría Cinque in einem Raum für Sonderausstellungen raumgreifend installierte. Billardzimmer waren traditionell für Frauen tabu. Also wagten sich Segundo und Cinque an eine Art Geschlechterkampf rund um Queue und Kugel als Zeichen für eine sich verändernde Rolle der Frau in der Gesellschaft. Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist in Spanien ein brennendes Problem, was man angesichts einer Jeunesse dorée in abendlichen Bars und Restaurants leicht übersieht.
Lúa Ribeira, seit 2018 als Nominee bei Magnum, hat sich des Themas angenommen, allerdings nicht im Sinne einer klassischen Reportage, vielmehr als interaktive Performance, die den Jugendlichen Gelegenheit gibt, sich zu den Klängen von „Trap“ und „Drill“ zu inszenieren und so ihre Gefühle vor der Kamera auszuleben (Museo Lázaro Galdiano).
Die wohl umfangreichste Schau hatte man dem erst im September vergangenen Jahres verstorbenen Erwin Olaf eingerichtet. Seit den 1980er Jahren bringt sich der Niederländer mit detailverliebten Inszenierungen ins Gespräch, erotisch aufgeladenen Bildfindungen, deren gelegentliches Chiaroscuro unübersehbar an das Goldene Zeitalter der flämischen Malerei erinnert. Grundsätzlich dachte der fotografierende Provokateur Olaf in größeren Zyklen. Die wichtigsten hatte Kurator Paco Barragán vor tüchtig rosa, rot und grau gestrichenen Wänden ausgebreitet (Fernán Gómez).
Überraschend war im Juli 2023 Alberto Anaut verstorben, Erfinder und treibende Kraft des 1998 mit viel Aplomb gestarteten Festivals, und manche werden sich gefragt haben, wie es wohl weitergehen werde mit dieser ja privaten Initiative. Doch augenscheinlich hat Anaut für verlässliche Strukturen und ein treues Team gesorgt. „Perpetuum mobile“ lautete nicht zufällig das Motto der diesjährigen Ausgabe, jetzt mit der sympathischen María Santoyo als neuer künstlerischer Leiterin, die in der Fotografie vor allem eines sieht: „Ein Medium im permantenten Wandel.“
Offiziell endet die 27. Ausgabe des Festivals PHotoESPAÑA am 29. September. Einzelne Ausstellungen laufen bis Oktober. Einmal mehr empfiehlt sich der handliche Guide als Orientierung. Kataloge sind u. a. zu Consuelo Kanaga, David Goldblatt und Gonzalo Juanes erschienen.
Fotos: Hans-Michael Koetzle