von Giulio Forti
Ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der deutschen Vorherrschaft im Kamera- und Objektivbau folgt 2025 die Auflösung des deutschen Photoindustrie-Verbands. Als Zeitzeuge wirft der italienische Foto-Fachjournalist Giulio Forti einen Blick zurück auf turbulente Zeiten, die er miterlebt hat und die bis heute nachwirken.
Bis in die 1960er Jahre galt die deutsche Kameraindustrie als weltweit führend. Ihr Niedergang fand in den Jahren 1965 bis 1979 statt. In diesem, vergleichsweise kurzen Zeitraum wuchs die japanische Kameraproduktion von 3,5 auf 10,8 Millionen Stück, während die der westdeutschen Fotoindustrie von 3 Millionen auf 310.000 Stück einbrach, von denen nur 5.000 Spiegelreflexkameras waren. Was war geschehen?
ZEITENWENDE
Ende der 1960er Jahre kam es in der Fotoindustrie, wie in vielen anderen Bereichen, zu einem technologischen Wandel. Die Elektronik nahm auch im Kamerabau den Platz der Mechanik ein. Integrierte Schaltungen (ICs) ermöglichten die Automatisierung von Funktionen, die bis dahin vom Fotografen manuell gesteuert werden mussten, wovon vor allem Einsteiger in die Fotografie profitierten. Auf halbautomatische Belichtungssysteme folgten bald die ersten elektronisch gesteuerten Verschlüsse, in denen Kondensatoren und elektronische Widerstände die bis dahin erforderliche Präzisionsmechanik ersetzten.
Die erste Kamera aus westdeutscher Produktion, die einen elektronischen Schlitzverschluss nutzte, war die von Zeiss Ikon und Voigtländer entwickelte Contarex SE aus dem Jahr 1966.
Doch auch, wenn die westdeutsche Fotoindustrie damit technologisch führend war, rutschte sie nach zwei Jahrzehnten des Wachstums in eine tiefe Krise, die alle großen Hersteller betraf. Im Jahr 1970 wurde die Situation von Zeiss Ikon und weiterer bekannter deutscher Kameramarken so prekär, dass die Absage der photokina diskutiert wurde. Das Aus konnte die KoelnMesse damals nur dank neuer Aussteller aus Japan abwenden.
ZEISS
Die Verkäufe von Zeiss-Ikon-Kameras und -Objektiven waren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre um 18% zurückgegangen, während die Nachfrage nach Kameras zu akzeptablen Preisen und zeitgemäßer Ausstattung stieg. Statt darauf zu reagieren, setzte Zeiss Ikon und andere deutsche Kamerahersteller weiter auf alt-bewährte Konzepte und war überzeugt, damit der japanischen Konkurrenz weiterhin überlegen zu sein. Im gleichen Zeitraum stiegen die Löhne und Gehälter sowie die Produktionskosten in Deutschland um 40%.
Die Verluste, die im Jahr 1965 bei Zeiss Ikon rund zwei Millionen Mark ausmachten, stiegen nach der Rettung von Voigtländer durch Zeiss zwei Jahre später auf 6,6 Millionen. Im Jahr 1970 fehlten 9,9 Millionen in der Bilanz. Am 2. September 1972 kündigte Heinz Küppenbender, damaliger Chef von Carl Zeiss, an, dass seine Tochtergesellschaft Zeiss Ikon ihre Kamerasparte und das Werk in Stuttgart schließen würde.
Deutschland war schockiert, aber Küppenbender hatte längst einen (damals noch geheimen) Plan B in Gang gesetzt. Zunächst verkaufte er das Voigtländer-Werk inklusive einer Lizenz zur Herstellung von Zeiss-Objektiven an Rollei.
Um solche auch selber weiter verkaufen zu können, plante er außerdem die Wiederbelebung der legendären Zeiss-Marke Contax. Statt mit deutschen Partnern, erfolgten Verhandlungen darüber zunächst mit Asahi Kogaku. Die blieben zwar erfolglos, für Asahi sprang jedoch die Nutzungslizenz für das Bajonett einer vor dem Krieg in Dresden entwickelten Spiegelreflexkamera heraus, die nie auf den Markt gekommen war. Dieses Syntax-Bajonett wird seit 1975 für die Pentax K-Serie genutzt.
Die Contax-Markenlizenz erhielt stattdessen eine Firma, die 1949 mit einem Startkapital von 600 Dollar am Suwa-See im japanischen in Okaya gegründet worden war, um Komponenten für elektrische Uhren zu produzieren. Zwanzig Jahre später war Yashica führend in der Elektromechanik und startete mit Carl Zeiss ein Joint Venture, über das erstmal der SPIEGEL im April 1974 berichtete: „Die Kooperationsvereinbarung [betrifft] die Entwicklung und den Verkauf von hochwertigen Spiegelreflexkameras“. Entworfen von Porsche-Design, sorgte die Contax RTS auf der photokina 1974 für Aufsehen. Die Marke stand die kommenden 30 Jahre für Premiumkameras, bevor sie 2005 vom Markt verschwand.
Aber zurück in die späten 1960er Jahre: Damals sah Heinz Küppenbender die Ursache der Misere bei Zeiss Ikon nicht in der veralteten Produktpalette, sondern machte die Inflation und die in Folge steigenden Exportpreise dafür verantwortlich. Akute Geldnot verursachte bei Zeiss außerdem die Stornierung eines lukrativen Auftrags über optische Komponenten des Leopard-Panzers, an dem auch Ernst Leitz Wetzlar beteiligt war.
LEITZ
Auch deswegen befand sich die Familie Leitz in ähnlichen Schwierigkeiten wie Zeiss und verkaufte 25% des Unternehmens an Wild Heerbrugg, ein Unternehmen, das zur Familie Schmidheiny gehörte und Hersteller von Mikroskopen, Theodoliten und Neigungsmessern für zivile und militärische Zwecke war.
Der damalige Leitz-Geschäftsführer Knut Kühn-Leitz, Neffe von Ernst II, beklagte zu jener Zeit die hohen Produktionskosten in Deutschland, „während sie in Japan 50% niedriger sind, weil die Regierung den Export unterstützt“, wie er aufgrund früherer Geschäfte mit Minolta im Bereich der Mikroskopie wusste. Sein Ratschluss war die Entlassung von 2.000 Mitarbeitern in Wetzlar, die Gründung eines Werks in Portugal und die Markteinführung der Leica CL, die von Minolta in Japan hergestellt wurde. Kurze Zeit später wurde die Leicaflex durch die R3 Electronic abgelöst, die eine Minolta XE-1 im Leica-Gewand war. Die CL war so erfolgreich, dass sie die Verkäufe der von Leitz selbst produzierten M5 kannibalisierte, bis beide eingestellt wurden und Leitz für knapp drei Jahre gar keine Kameras mehr mit M-Bajonett produzierte. Die Wiederaufnahme der M-Produktion erfolgte nur aufgrund anhaltender Nachfrage, allerdings im Leitz Werk in Kanada, weil die Herstellung in Deutschland nicht wirtschaftlich machbar erschien.
FOTOHANDEL
Im deutschen Fotomarkt sorgte in diesen Jahren das Kartellamt für zusätzliche Probleme, denn es beanstandete die bis dahin geltende Preisbindung für Fotoprodukte. Nach deren Abschaffung sanken die Preise für Kameras und Objektive um durchschnittlich 20%. Um das auffangen zu können, kürzten die Hersteller dem Fotohandel Rabatte und Prämien, ein Vorgehen, dass sie teuer zu stehen kommen sollte: Große Player im Fotofachhandel wie Photo Porst, Foto-Quelle und Ringfoto verhandelten umgehend mit VEB Pentacon über den Import von Prakticas aus der damaligen DDR sowie mit Zenit aus der Sowjetunion über die Lieferung preiswerter Kleinbild-Spiegelreflexkameras. Die japanischen Hersteller Chinon und Cosina waren außerdem bereit, Porst und Quelle Kameras und Objektive unter deren Eigenmarken zu liefern. Das Ergebnis war, dass der Importanteil am deutschen Kameramarkt bis Mitte der 70er Jahre auf 80% anstieg.
Noch mehr Marktanteil als im Inland verloren deutsche Kameramarken im selben Zeitraum außerdem in wichtigen Ländern in Europa und in den USA. Im Jahr 1970 standen 5,8 Millionen Kameras aus Japan (von denen 1,6 Millionen SLRs waren), rund 8.000 Kameras aus West- und 130.000 aus Ostdeutschland gegenüber. Hinzu kamen trotz des Kalten Krieges rund 100.000 aus der UdSSR. Zum Vergleich: Insgesamt lieferte die japanische Fotoindustrie im vergangenen Jahr 7.720.505 Kameras.
MADE IN JAPAN
Nach der Eroberung des amerikanischen Marktes und dem Angriff auf Europa nahmen die Exporte der japanischen Kamerahersteller stetig zu, als es Anfang der 70er Jahre zu einer internationalen Währungskrise kam. Am 15. August 1971 kündigte der amerikanische Präsident Richard Nixon einseitig die bis dahin geltende Verpflichtung der Vereinigten Staaten auf, Dollar in Gold zu tauschen. Der Dollar verlor damit über Nacht seine Funktion als Anker für die anderen Währungen. Den Rest der Welt traf die Entscheidung, mit der Nixon der steigenden Inflation begegnen und die Finanzierung des Vietnam-Kriegs sichern wollte, völlig unvorbereitet. Gleichzeitig führte Nixon eine zehnprozentige Steuer auf Importe ein, was unter anderem die deutschen Kameraexporte weiter einbrechen ließ, während Japan trotz des Anstiegs des Yen um 15% durch staatliche Unterstützung seine Ausfuhren stabil halten konnte. Dennoch führte die Entwicklung auch dort zur Verlagerung der Produktion preiswerterer Kameras und Objektive in asiatische Billiglohnländer sowie zum Ausbau der Automatisierung in der heimischen Produktion. Canon eröffnete zu dieser Zeit seine erste Fabrik in Taiwan, Asahi Kogaku auf den Philippinen, Yashica in Hongkong, aber auch in Brasilien, Irland und Portugal entstanden japanische Fertigungsstätten der Kameraindustrie. Attraktiv waren außerdem Thailand und Malaysia.
ROLLEI
Heinrich Peesel, zu dieser Zeit Generaldirektor der Rollei-Werke, wollte diese japanische Strategie mit der Produktion der Rollei SL35 im Kleinstaat Singapur nachvollziehen, wo niedrige Löhne und Steuererleichterungen lockten und eine hohe Gewinnspanne versprachen. Im Frühjahr 1973 hatte die Kleinbildkamera ihr Debüt, entpuppte sich aber weder technisch noch preislich als wettbewerbsfähig. Peesel hatte 300 Millionen Mark Umsatz und einen Gewinn von acht Millionen Mark im ersten Jahr prognostiziert, machte aber stattdessen einen Verlust von zehn Millionen. Nach zwei Jahren musste er 800 Mitarbeiter in Braunschweig und 2.000 in Singapur entlassen. Das Unternehmen ging 1981 in Konkurs und sorgte damit bei der Norddeutschen Bank für einen Verlust von 500 und 600 Millionen Mark. „Wir hätten auf den Deutschen nicht vertrauen dürfen“, sagte Hon Sui Sen, der Finanzminister von Singapur, dem Peesel für 15 Jahre Steuerbefreiungen und weitere Vergünstigungen abgerungen hatte.
REPUTATION
Um dem Erfolg der japanischen Kameraindustrie auf den Grund zu gehen, stattete der Herausgeber der italienischen Fotozeitschrift Fotografare, Cesco Ciapanna, dem Land 1972 einen Besuch ab. Zwischen den offiziellen Terminen und Interviews mit japanischen Managern und Ingenieuren fielen immer wieder Kommentare zu den deutschen Wettbewerbern. Auf den Vorwurf, vor dem 2. Weltkrieg deutsche Kameras kopiert zu haben, antwortete ein Manager, man habe diese Modelle überarbeitet, um sie zu vereinfachen und Produktionskosten und Gewinn zu optimieren.
Und heute? Unter der Marke Voigtländer werden (ganz hervorragende!) Objektive des japanischen Herstellers Cosina vermarktet, der auch Fotoobjektive für Zeiss fertigt. Unter der Marke Rollei wird Fotozubehör aus China im Diektvertrieb angeboten. Einzig Leica hat es nach zahlreichen Krisen geschafft, längst wieder zu einem weltweit angesehenen Hersteller von Premium-Fototechnik „Made in Germany“ geworden zu sein. Produziert wird außer in Wetzlar nach wie vor in Portugal, und die Sensoren der Leica-Kameras kommen aktuell, so wie bei nahezu allen anderen Kameras, von Sony. Dass nach Huawei aktuell Xiaomi mit Leica bei der Entwicklung seiner Smartphones kooperiert, zeigt, dass Fototechnik „Made in Germany“ noch immer (und zu Recht) weltweit eine hervorragende Reputation hat, die auch Sony mit der Marke Zeiss für seine Zwecke zu nutzen weiß.
Giulio Forti ist Ehren-Vorsitzender der Technical Image Press Association, TIPA, und war seit 1980 Herausgeber und Chefredakteur von FOTOGRAFIA REFLEX. 1994 wurde er mit einem der renommierten Photokina-Obelisken ausgezeichnet.
Sein Beitrag über den Niedergang der deutschen Kameraindustrie basiert auf einem Kapitel seines Buches „Nikon, a japanese story“. In dem spannend und versiert geschriebenen Fachbuch schildert Giulio Forti kenntnisreich, wie sich vor dem Hintergrund der von Kriegen und Eroberungen geprägten Geschichte des Reichs der aufgehenden Sonne im Japan des frühen 20. Jahrhunderts eine Leidenschaft für die Fotografie entwickeln konnte.
Mehr Informationen zum Buch:
https://www.artioli.it/shop/nikon-a-japanese-history/?lang=en