Das Potenzial für ein starkes Bild zu erkennen und daraufhin die grafischen Motiv-Elemente in einer überzeugenden Komposition zu gestalten, ist eine der wichtigsten Handfertigkeiten eines Fotografen. Michael Freeman zeigt in seinem Standardwerk „Der fotografische Blick“ anschaulich die verschiedenen kreativen Möglichkeiten der Bildgestaltung.
„Der fotografische Blick“ ist ein Klassiker, mit dem man grundlegende Gestaltungsprinzipien kennenlernen kann, die zum Teil aus anderen Kunstgenres wie der Malerei entlehnt sind. Das bereits in dritter, aktualisierter Auflage in der Fachbuchreihe >Edition ProfiFoto< erschienene Buch von Michael
Freeman gibt Antworten auf viele Fragen: Welche Wirkung entfalten verschiedene Bildformate, Platzierungen oder Einrahmungen des Hauptmotivs? Wie kann man mit Tiefe und Perspektive die Blickführung des Betrachters lenken?
Welche geometrischen Formen, Linien und Lichtakzente helfen bei der Gestaltung? Zu welchem Zweck können Kontraste oder Muster genutzt werden? Welche Rolle spielen Farben bei der Bildaussage? Welche gestalterischen Möglichkeiten gibt es, einen Spannungsbogen im Bild aufzubauen?
Jenseits aller Regeln schreibt Michael Freeman aber auch über die Rolle der Intention in der Fotografie: „Regeln verleihen der Komposition einen faden Beigeschmack“, so Freeman, der anhand vieler Beispiele zeigt, wie ein Bild funktioniert und wie sich Designelemente auf die Wahrnehmung der Betrachter auswirken. „Doch all diese Dinge sind bei Weitem keine Regeln. Dass eine kleine gelbe Fläche hervorragend mit einem großen violetten Bereich harmoniert, ist zwar wahr, doch kein Grund, auf Teufel komm raus nach diesem Farbverhältnis zu streben. Was die Komposition vielmehr bestimmt, ist die Intention. Simples Beispiel: Soll die Aufnahme möglichst viele Betrachter zufriedenstellen oder soll sie etwas Besonderes und Unerwartetes darstellen? Die Intention muss nicht so spezifisch sein, es kann sich auch um eine unausgesprochene persönliche Vorliebe handeln. Nichtsdestotrotz sollte man sich stets darüber im Klaren sein, was man generell von einer Fotografie erwartet, bevor man sich an die Komposition macht“, so Michael Freeman.
„Die meisten Aufnahmen wirken pragmatisch, weil die Kamera so hervorragend dafür geeignet ist, visuelle Informationen aufzunehmen und zu präsentieren. Die reine Quantität macht die Fotografie im Gegensatz zur bildenden Kunst zum absoluten Massenmedium. Der führende US-amerikanische Grafikdesigner Milton Glaser schrieb: „Mit der Entwicklung der Gesellschaft haben sich der Informationstransport und die Kunst immer weiter voneinander entfernt, bis zwischen hoher Kunst und reiner Kommunikation für die Massen unterschieden werden konnte.“ Die problemlose Reproduzierbarkeit und die überwiegend nicht professionelle Verwendung haben die Fotografie zum weitgehend anspruchslosen Massenmedium gemacht.
Dabei ist Stil in der Fotografie viel schwerer greifbar als in der Malerei. Oft gibt nur der Name des Fotografen Aufschluss darüber, wer die Aufnahme gemacht hat – Elemente und Techniken sind leider viel zu austauschbar. Geoff Dyer kommentierte in seinem Buch „The Ongoing Moment“ nicht als Erster diese Problematik. In seiner Studie über die Fotografen der amerikanischen Depression ließ er verlauten: „Wenn wir Fotografien untersuchen, passiert es immer wieder: Ein Motiv, das typischerweise einem bestimmten Fotografen zugeordnet wird – das geht so weit, dass wir glauben, den Fotografen anhand des Motivs identifizieren zu können –, wird von vielen anderen Fotografen ebenfalls benutzt und reproduziert.“
In der Malerei entsteht ein Bild durch die Kombination der Vorstellungskraft des Malers mit den verwendeten Materialien (Leinwand, Farbe). Dabei entsteht niemals ein neutrales Bild ohne Charakter (selbst Fälschungen basieren auf irgendeinem Stil). Bei der Fotografie verhält es sich umgekehrt: Fotos können ohne großes Nachdenken über ihr finales Erscheinungsbild geschossen werden.
Das bloße Bild, das von der Kamera eingefangen wird, kann durch den Fotografen in vielerlei Hinsicht beeinflusst werden. Um einer Aufnahme einen bestimmten Stil zu verleihen, stehen dem Fotografen vielerlei Mittel zur Verfügung. Allerdings wirken sich diese in der Regel eher subtil auf das finale Bild aus, da Motiv und Inhalt dominieren“, so Freeman, der sich in seinem Buch zwar ausführlich mit dem Vokabular und der Grammatik der Komposition auseinandersetzt, jedoch sehr wohl weiß, dass der Prozess eigentlich mit dem Inhalt beginnt – eine fixe oder ungefähre Idee davon, welche Art von Bild der Fotograf machen möchte. Freeman: „Natürlich lassen sich auch gute Aufnahmen ohne bestimmte Vorstellungen im Kopf anfertigen; sozusagen reaktiv. Doch hierin spiegelt sich das größte Problem der Fotografie wider – die vollkommene Gedankenlosigkeit aufgrund der Einfachheit des Fotografierens“, so der Autor.
„Das Problem wird verstärkt durch die seltene Entstehung tatsächlich guter Bilder, über die der Fotograf nicht nachgedacht hat – wobei die Betonung hierbei auf dem Wort „selten“ liegt.“ Michael Freeman warnt Fotografen, sich nicht durch solche vergangenen Schnappschüsse dazu verleiten zu lassen, stets ohne Plan auf Motivsuche zu gehen. Denn, so Freeman: „Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Wissen darüber, was Sie fotografieren wollen und welche Resultate Sie erwarten. Selbst wenn Ihre Intention nur skizzenhaft ist – sie wird Ihnen beim Gestalten von Hilfe sein.“
Foto oben: In dieser komplexen Aufnahme einer Straßenszene in Jaipur, Indien, erzeugt das kontrastreiche Sonnenlicht ein über mehrere Ebenen verteiltes Zusammenspiel der Bildelemente.
Den Autor:
Michael Freeman ist ein international bekannter Fotograf und Autor, der sich auf die Themen Reise, Architektur und asiatische Kunst spezialisiert hat. Er ist zudem bekannt für seine Expertise bezüglich Special Effects. Er arbeitet für renommierte Magazine wie National
Geographic und hat bereits mehr als 20 Fotografie-Bücher verfasst, die in 27 Sprachen übersetzt wurden.
„Der fotografische Blick – Komposition und Design für bessere Fotos“, mitp Verlag (mitp.de), Umfang 192 Seiten, ISBN: 9783747503584, Preis 29,99 Euro