Was heute, im Zeitalter von Instagram, das Smartphone, war vor fünfzig Jahren die 35-mm-Kamera: Sie dokumentierte, was man aß, wie man reiste, was auf Büropartys oder Familientreffen abging. Sich vorzustellen, was eine anonyme Person vor Jahrzehnten dazu veranlasste, den Auslöser zu drücken, war die Idee hinter Lee Shulmans Anonymous Project*, einer kuratierten Auswahl von 300 anonymen Bildern aus seiner Sammlung von über 700.000 Lichtbildern. Orte, Daten und Personen sind zwar allesamt unbekannt, aber die Geschichten in diesen Schnappschüssen gehören zum universellen Erfahrungsschatz unserer westlichen Welt.
Es begann mit einem arglosen Kauf auf eBay. Der Filmemacher Lee Shulman erwarb einen Satz Kodachrome-Kleinbilddias – anonyme Familienfotos – und war so angetan von dem, was er den „emotionalen Wert dieser Lebensschnipsel“ nannte, dass ihm sofort klar war: Er braucht mehr davon. Also rief er im Januar 2017 The Anonymous Project ins Leben. Seitdem erhielt er von Spendern und Händlern fast 700.000 Aufnahmen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, deren Negative und Diapositive er sammelte, konservierte und katalogisierte.
The Anonymous Project, das jetzt vom Taschen Verlag erstmals veröffentlicht wird, zeigt Aufnahmen, die von den Fünfzigern, als die Farbfotografie für jedermann erschwinglich wurde, bis in die siebziger Jahre reichen und durch ihre Kodachrome-Farben bestechen. Auch wenn die abgebildeten Menschen unbekannt sind, gehören diese Aufnahmen und die faszinierenden Geschichten, die dahinterstecken, zum universellen Erfahrungsschatz unserer westlichen Welt.
*Lee Shulman, Hardcover, 23,7 x 31,6 cm, 280 Seiten, ISBN 978-3-8365-7584-3