Kreativität mit der Kamera ist ein Balanceakt. Für Michael Freeman bedeutet das, sich mit dem Leben zu beschäftigen und sich auf Unvorhersehbares einzulassen. Momente festzuhalten. Es hat aber auch mit der eigenen Denk- und Sichtweise zu tun und so zeigt der Autor des neuesten Bands der Edition ProfiFoto gleich 50 Wege zur kreativen Fotografie auf.
Keine Regeln
Dies hier ist kein Techniktraining. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, und Sie können sicher sein, dass Ihre Bilder von vornherein langweilig aussehen, wenn Sie sich an alle Regeln halten. Wenn es jedoch etwas Schlimmeres gibt, als sich stur an alle Regeln zu halten, dann ist es, die Regeln unter allen Umständen zu brechen. Doppeltes Desaster.
Warum sollte es Regeln für eine rein kreative Tätigkeit geben? Durch Regeln werden Dinge akkurat, vorhersagbar und wiederholbar, also genau das, was ein interessantes, überraschendes Foto nicht sein soll. Nun fragen Sie sich vielleicht, woher unpassende Regeln für kreative Tätigkeiten überhaupt kommen. Leute, die selbst nicht kreativ sind, denken sie sich aus, um eine einfache, logische Formel zu haben … um vielleicht doch noch kreativ zu sein.
Nehmen wir den Ursprung einer der besser bekannten Regeln, der Drittelregel. Der Name wurde 1797 von John Thomas Smith erfunden, einem Graveur und Zeichner. Smiths Regel basierte auf einer Fehlinterpretation des Künstlers Sir Joshua Reynolds, der einmal geäußert hatte, dass bei zwei Bildbereichen unterschiedlicher Helligkeit einer dominieren und der andere nicht gleich groß sein sollte. Smith schrieb: »Analog zu dieser Drittelregel (wenn ich sie so nennen darf), erlaube ich mir …« Leider hat ihm niemand entgegnet: »Nein, darfst du nicht!«
Seitdem halten sich mittelmäßige Künstler und Fotografen mit begrenzter Fantasie manisch an diese merkwürdige Anleitung, ein Bild in Drittel zu unterteilen. Dabei ist doch offensichtlich, dass Fotos zwangsläufig langweilig wären, würden alle anhand derselben Regeln erstellt. Denken Sie nur an die Fotos, die Sie wirklich inspirieren. Wie viele sind in Drittel unterteilt? Die eigentliche Frage ist doch: Warum wird die Regel so oft wiederholt, und nie mit lohnenswerten Ergebnissen?
Allerdings gibt es durchaus einige visuelle und psychologische Effekte, aber hier liegt der Fall anders. Das menschliche Sehen ist darauf trainiert, Vorhersagen anhand dessen zu treffen, was das Auge wahrnimmt. Es ist darauf trainiert, zu erkennen, sich etwas vorzustellen und zu extrapolieren.
Zum Beispiel stellt es gern Verbindungen her. In der Flussszene aus Vietnam auf den Bild gegenüber erkennen die meisten sofort das Dreieck. Es fällt sofort als eine Struktur auf, die dem Bild Stabilität verleiht. Tatsächlich gibt es hier zwei sich überlagernde Dreiecke, eines davon der Hut auf dem Kopf der Frau. Aber das sind genau die Details, die einem Fotografen auffallen.
Ein weiteres Beispiel: Das menschliche Auge wird automatisch von bestimmten Dingen in einem Bild angezogen, als da wären das Gesicht eines Menschen, vor allem die Augen, und Schrift (in welcher Sprache auch immer). Wenn Sie sich auskennen, welche Anordnungen und Gegenstände die meiste Aufmerksamkeit erregen, können Sie die Auswahl des Bildausschnitts und die Komposition für Ihre Zwecke einrichten. So können Sie sich einigermaßen sicher sein, dass der Blick des Betrachters zum Gesicht und den Augen wandern wird, also können sie ruhig klein sein, wenn Sie wollen. In der Aufnahme von der Cocteleria (da gibt es Austern-Cocktails, keine Martinis) erregt das Schild natürlich am meisten Aufmerksamkeit. Und obwohl das Gesicht einen weit kleineren Bildbereich einnimmt, erkennt das Auge irgendwann das Gesicht und die Augen, denn der Fotograf hat das Mädchen mit einem Seitenblick aufgenommen, der das Weiß in den Augen erkennen lässt.
Wie erwähnt, das sind keine Regeln, sondern Effekte. Sie können sie einsetzen, wenn Sie wollen, aber keiner dieser Effekte allein wird ein Bild besser oder interessanter machen.
Arbeiten studieren
Um in der Welt der Fotografie erfolgreich zu sein, gehört es einfach dazu, zu wissen, was bereits erreicht wurde und von wem. Sie sollen nicht kopieren, sondern es verstehen. Studieren Sie die Arbeiten anderer, sowohl bekannter als auch moderner Künstler. Entscheiden Sie, welche Arbeiten Ihnen gefallen, und überlegen Sie, warum das so ist. Bemühen Sie sich, die zugrundeliegenden Ideen zu verstehen, die Sie auch selbst einsetzen können. Die meisten Fotografen investieren viel Aufwand in ihre Aufnahmen, davon können Sie profitieren.
Manche nähern sich ihren Motiven lieber unvoreingenommen. Das mag durchaus berechtigt sein, dennoch kommen Sie damit vermutlich nicht weit. Nehmen wir das Äquivalent in der Malerei: Naive Kunst wie die Streichholzmännchen von L. S. Lowry funktioniert, weil sie kindhaft ist und die Arbeiten anderer komplett ignoriert. Aber sie funktioniert nur in kleinen Dosen. Die fotografische Version verwendet Spielzeugkameras – je mehr Plastikobjektiv, desto besser. Für uns, die wir unseren Platz in der Welt der echten Fotografie finden wollen, ist es ein guter Anfang, sich in dieser Welt etwas auszukennen. Oder anders ausgedrückt: Entdecken Sie die Meisterwerke in dieser Welt. Schauen Sie sich an, was bereits geschaffen wurde und was gerade los ist – nicht einmal unbedingt zur Inspiration (obwohl das ein netter Nebeneffekt ist), sondern um zu wissen, was gute Fotografie ist. Zumindest werden Sie nun nicht weiter extrem zufrieden mit sich sein, weil Sie glauben, eine neue Art des Fotografierens erfunden zu haben – das hat bestimmt schon jemand vor Ihnen so gemacht. Darum verwenden Philosophen die Begriffe H-Kreativität (historische) und P-Kreativität (psychologische). H-Kreativität bedeutet, niemand hat das vor Ihnen so gemacht und Sie sind der Erste. P-Kreativität heißt, die Person glaubt, etwas neu erfunden zu haben, weil sie nicht weiß, was vorher passierte.
Allerdings ist es gar nicht unbedingt nötig, etwas neu zu erfinden. Das wird klar überbewertet, denn wie der Werbeguru John Hegarty es in seinem Buch Hegarty on Creativity:
There are no Rules formulierte: „Im Grunde hängt es von der Genauigkeit Ihrer Quellen ab. So wird das Wort »einzigartig« ebenso zu oft, zu häufig und ungerechtfertigt verwendet wie »original«. Was ist denn wirklich »original«, wurde also wirklich niemals vorher getan? Nun könnten Sie behaupten, jeder Moment in der Fotografie ist einzigartig, aber das ist Haarspalterei. Nehmen Sie irgendein Bild, das völlig neuartig zu sein scheint, und wenn Sie lange genug suchen, werden Sie feststellen, dass es durch ein bereits dagewesenes inspiriert wurde. Das kommt in allen kreativen Medien vor und ist völlig in Ordnung. So ist Kunst, sie baut auf Vorhandenes auf.“
Ebenso ist es hilfreich zu wissen, dass jede kreative Branche – von Malerei über Film bis zu Theater und Fotografie – im Geschmack verschiedene Moden durchläuft. Selbst die kreativste Arbeit ist nur dann erfolgreich, wenn sie jemand anderem gefällt – Sie müssen nur lange genug darauf warten. Nach einer Vorlesung an der Universität von Hangzhou fragte mich ein chinesischer Student: »Und was, wenn meine Arbeit niemandem gefällt?« Schwere Frage, und auch die Antwort ist nicht einfach. Vielleicht liegt es daran, dass Sie Ihrer Zeit voraus sind und ganz am Rande der Kreativität arbeiten. Oder Ihre Arbeiten sind nicht so gut, wie Sie glauben. Zeigen Sie sie einem vertrauten Fotografen oder lassen Sie Ihr Portfolio von einem Profi bewerten, dessen Arbeiten Ihnen gefallen. Wenn er Ihnen grünes Licht gibt, behalten Sie Ihren Stil bei, auch wenn Sie eine Weile auf Ihren Durchbruch warten müssen.
Eine Idee einbetten
Ein Bild ist stärker und funktioniert besser, wenn es nicht einfach nur gut aussieht, sondern eine Idee dahintersteckt. Es muss nicht unbedingt ein großartiges Konzept sein, aber wenn Sie beim Herstellen des Bildes einen Zweck im Sinn hatten, wirkt es automatisch interessanter. Lassen Sie sich von dieser Aufgabe nicht einschüchtern. Fotografen, die sich wenigstens ein bisschen dafür interessieren, was sie aufnehmen, denken immer ein wenig über die Bedeutung ihrer Bilder nach und haben eine Vorstellung davon, was sie visuell erreichen wollen.
Die Idee dieses Künstlerporträts scheint recht einfach zu sein, fast schon offensichtlich. Der Maler, Yue Minjun, hat durch die Verwendung der grotesk grinsenden, pinkfarbenen Gesichter einen beachtlichen Ruf in China erworben, »eine selbstironische Antwort auf das spirituelle Vakuum und die Narrheit des modernen China« zu liefern, wie die Saatchi-Galerie es formuliert. Diese Kultfiguren mit ihren glatt rasierten Köpfen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit Yue selbst auf – abgesehen von den irren Gesichtsausdrücken. Tatsächlich stellen sie verzerrte Versionen eines Selbstporträts dar. Ihre Größe und grafische Stärke machen seine Gemälde zu einem natürlichen Hintergrund für alle Fotoporträts; wir haben fast ohne nachzudenken so begonnen, bevor uns klar wurde, dass man eine Verbindung herstellen könnte. Yue ist von Natur aus ernsthaft , sodass der Kontrast zwischen ihm und seinen gemalten Versionen seine Arbeit auf den Punkt bringt. Wir mussten nur noch ein Gemälde finden, das sich als Hintergrund eignete – eine Lücke zwischen zwei großen grinsenden Köpfen, die groß genug für den Künstler wäre. Ich platzierte ihn dicht genug davor, dass alles im Fokus war, und ließ ihn ernst in die Kamera schauen. Dieses absichtlich einfache Vorgehen führte auf logische und überaus zufriedenstellende Weise zum fertigen Bild.
Etwas weniger offensichtlich in seiner Idee ist dieses Bild eines Wasserfalls mit einer kleinen Gruppe Frauen, die an der Seite herunterklettern. Dies war eine Auftragsarbeit für ein Buch über Tee. Wir sind hier tief in den Bergen der chinesischen Provinz Anhui. Unsere Gastgeber, die Teeproduzenten, zeigten uns diesen schönen, aber schwierigen Weg; der beste Tee wächst hoch in den Bergen. Der Blick an dieser Stelle war beeindruckend, jedoch gab es hier keine Menschen. Als Landschaftsbild war es halbwegs in Ordnung, allerdings wies mein Freund und Koordinator mich auf eine vertikale Anordnung hin, die das Zeug zu einem typisch chinesischen »Berg-Wasser«-Rollbild hatte. Ein solches Bild hat eine ganz bestimmte Form, die unter anderem Grafiken umfasst, die den Blick aufwärts lenken sollen, winzige Figuren und eine vertikale Anordnung, bei der entferntere obere Ebenen auf den unteren zu sitzen scheinen. Die winzige Größe der Figuren ist wichtig: Der Taoismus lehrt, dass der Mensch zwar eins mit der Natur, ihr aber dennoch untergeordnet ist.
Damit ich Menschen in die Komposition intergrieren konnte, mussten unsere Gastgeber einige Mühen auf sich nehmen. Handys funktionierten dort nicht. Deshalb musste jemand noch viel höher klettern, um herauszufinden, wann die Pflücker aus dem oberen Teegarten zurückkehrten, damit ich die Aufnahme vorbereiten konnte. Alles an dieser Aufnahme – Timing, Aufbau (und später Beschnitt), Brennweite und einige Feinheiten der Bearbeitung – richtete sich nach dieser Idee eines traditionellen »Berg-Wasser«-Gemäldes.
Wenn Sie Ihr Konzept zur treibenden Kraft hinter Ihrem Bild machen, besteht die einzige Gefahr darin, dass Sie sich ausschließlich darauf verlassen und die visuelle Kunst vernachlässigen. Heutzutage basiert ein Großteil der modernen Kunstfotografie auf Konzept – die Fallstricke kann man in vielen Galerien und Ausstellungen besichtigen. Starke Idee + schwache Ausführung = fragwürdige Fotografie. Nutzen Sie niemals schlaue Ideen als Krücke für schlechte bildliche Darstellungen.
Dieser Artikel ist in ProfiFoto 3/17 erschienen.
DIE EDITION PROFIFOTO
Die Experten der Redaktion ProfiFoto
und aus dem mitp-Verlag bündeln ihr Know-how und publizieren in Zusammenarbeit mit erfahrenen Autoren, die unmittelbar aus der Foto-Praxis kommen, eine einmalige Fachbuchreihe „made for professionals“: Ergänzend und flankierend zum Magazin ProfiFoto bieten die mitp-Bücher der Edition professionelles Wissen zum richtigen Umgang und zur effizienten Nutzung digitaler Fototechnik und Bildbearbeitung.
50 Wege zur kreativen Fotografie
von Michael Freeman, mitp Verlag 2017, 1. Auflage 2017, 224 Seiten, Softcover mit Schutzumschlag, Format 23,5 x 25,5 cm, ISBN 978-3-95845-458-3, 29,99 Euro
Direkt beim mitp-Verlag bestellen