Kunst ist manchmal eine Zumutung. So etwa der Bildband von Stefan Heyne „Naked Light“: Viel mehr als unscharfe Kanten und Lichtflecken sind auf den Fotos nicht zu erkennen, manches scheint es mit dem Verlaufswerkzeug von „Adobe Photoshop“ aufs Papier geworfen. Ja, Kunst ist eine Zumutung – und sie versagt, wenn sie es nicht ist. Wer sich ihr nicht aussetzen will, darf nach Hause gehen, und die vertrauten vier Wände anstarren. Allen anderen ist die Freiheit gegeben, über sie hinauszudenken.
Man begegnet auf dem Weg, „Naked Light“ zugänglich zu machen, einigen Wahrheiten. Sie sind wenig tiefgründig, sondern zeigen zuerst einmal, dass der Kaiser „Kunst“ nackt ist. Aber wenn man ehrlich an sich heruntersieht, steht man im Licht der Erkenntnis auch nicht besser da.
Der Striptease fotografischer Wahrheiten beginnt damit, Heynes Buch aufzuschlagen, und den unwillkürlichen Gedanken, „Das kann ich doch auch“, ernst zu nehmen. Er trifft für alle bedeutenden Werke der Kunst irgendwie zu, ist aber letztlich unwahr. Zutreffend ist: Jeder könnte wie Malewitsch ein schwarzes Quadrat malen, wie Marcel Duchamp ein umgedrehtes Pissoir ins Museum hängen oder wie Lucio Fontana eine Leinwand aufschlitzen. Macht aber nicht jeder. Und selbst wenn er die Tapferkeit besäße, würde es niemand in der Kunstwelt bemerken. Denn man hat zuvor – anders als etwa Duchamp – keine Ideen, Handlungen und Werke hervorgebracht. Kurz: Man hat außer einem Pissoir, das daheim herumliegt, nichts Bemerkenswertes zu bieten.
Die Lichtflecke von Heyne dagegen behaupten: Hier stehst Du, wir haben das 21. Jahrhundert, und hier stehe ich zwischen Dir und der althergebrachten Weltblödheit und -blindheit. Seine Fotos müssen ihre Thesen nicht einsam vertreten. Alle paar Jahre fragen sich Fotografen, was ihre Kunstform von anderen unterscheidet und was sie wesentlich ausmacht. Der Minimalkonsens ist, dass sie nicht nichts abbilden kann. Anders herum gesagt gilt, dass der Druck auf den Auslöser immer irgendetwas einfängt. Selbst ein überbelichteter Analogfilm enthält ein Lichtbild samt – wenn auch reduziertem – Sinngehalt. Das erste Foto der Welt macht den Gedanken deutlicher, Joseph Nicéphore Niépces Blick auf dem Fenster aus dem Jahr 1826. Letztlich ist außer einigen Hell-Dunkel-Schattierungen nichts erkennbar, trotzdem gilt es es als ungeheuer bedeutungsvoll.
Der Fotograf Timm Rautert entwickelte den Gedanken Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre weiter. Er legte dar, dass es bei der Fotografie nicht wesentlich darum geht, ein Motiv, etwa eine Blume, abzubilden. Vielmehr lenkte er den Blick auf das Material, auf Silberhalogenid, das auf Licht regiert. Wer das für unwichtig hält, sollte sich an den Glaubenskrieg erinnern, der immer noch um die irgendwie andere Anmutung von Pixel versus Silberhalogenid schwelt. Der Gegenstand wurde also bei Rautert weitgehend ausgeschlossen, es bleiben die Kamera, der Film, der handelnde Künstler und schließlich der Betrachter.
Heyne scheint sogar den Künstler aus der Gleichung zu nehmen. Was bleibt, ist ein Lichtkasten, der einen äußeren Lichtkasten (den Raum) aufnimmt. Wer bis jetzt willig mitgelesen hat, der hat vermutlich endgültig genug: Was kann langweiliger sein, als zwei unbelebte Räume, die sich gegenseitig anstarren? Selbst der Wandfarbe beim Trocknen zuzuschauen, dürfte spannender sein. Wer trotzdem weiterliest, dem bleiben Kamera, Film und Betrachter.
Überraschung! Mehr braucht es nicht. Denn in der Postmoderne entsteht ein Kunstwerk, indem darüber geredet wird. Bernd und Hilla Becher etwa lichteten schlicht Industriebauten ab. Erst Kritiker, Journalisten und die Schreiber von Ausstellungskatalogen machten daraus „Konzeptkunst“ mit allerhand Theorie (auch wenn zugegeben manches in der Art, wie sie fotografierten, nachfolgende Erkenntnisse nahelegten).
Das Problem, dass die „von Natur aus dummen“ Fotos erst erklärt werden müssen, ist in ihnen angelegt. Schließlich sind Bilder naturgemäß dazu da, unsere Schaulust zu befriedigen, aber nicht, um den Verstand einzuschalten – zu diesem Zweck liest man die Zeitung. Heyne versucht, mit einer möglichst klaren Bildsprache etwas möglichst Kluges über das Lichtbild mitzuteilen. Das ist immer wieder nötig, um die im Foto angelegten Denkfaulheit, nach der sie immer nur „irgendwie schön“ oder „doof“ sind, zu entkommen.
Gerhard Grimm zitiert in einem der sieben Vorworte von „Naked Light“ den Schriftsteller Paul Valéry mit den Worten: „Ein Kunstwerk sollte immer darauf hinweisen, dass wir noch nicht gesehen haben, was wir sehen.“ Zu diesem Zweck also hat Heyne Landschaften, Alltagsobjekte und Innenräume in einfache Formen aufgelöst. Sie bewegen sich an der Scheidelinie zwischen Erkennbarem und seiner Auflösung. Eher unbewusst ertappte sich der Rezensent dabei, wie reizvoll er diese schwebenden Lichtbilder zunehmend empfand, nachdem sie lange in seinem Denkkasten herumgespukt waren. Sie bieten viel Raum, um zu erkunden, wie Licht fällt und was es wiedergeben kann – angesichts penetranten Bilderflut und der überbordenden Theorie drumherum bieten sie Raum, um aufzuatmen. Exakt 743 Wörter waren erforderlich, um an diesen Punkt zu kommen.
Natürlich könnte man auch hinausgehen, und die Lichtspiele auf Steinen studieren. Genau dies hat ein legendärer Fotograf wie Henri Cartier-Bresson gemacht, bis er ein Picknick am Fluss meisterhaft ablichten konnte. Er dürfte viel Freude an diesen sinnlichen und sinnigen Lichtspielen gehabt haben. Die hat man mit für nur 39,80 Euro mit „Naked Light“ auch.
Stefan Heyne: Naked Light. Die Belichtung des Unendlichen. Hatje Cantz 2014, 128 Seiten,gebunden, Deutsch, Englisch, ISBN 978 3 7757 3841 5, Preis: 39,80 Euro
Wer noch über Stefan Heynes „Naked Light“ diskutieren will: Im Forum von FOTO HITS ist genug Raum dafür:
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