Mit „URBAN DESIRE“ von Gudrun Kemsa (*1961, lebt in Düsseldorf) zeigt die Kunsthalle Erfurt vom 12. März bis 7. Mai 2023 eine Position, die das Thema Großstadt in seinen Fokus stellt.
Was macht eine Großstadt oder gar eine Metropole aus? Was unterscheidet sie von anderen Zentren menschlicher Aktivität? Die urbane Metropole bedeutet die Verdichtung von gesellschaftlichen (sozialen, ökonomischen, infrastrukturellen) Funktionen – Verdichtung von Mensch, Raum und Bewegung, die zugleich mit einer Anonymisierung des Lebens einhergeht. Menschen treten permanent auf und ab auf den Bühnen urbanen Lebens, doch sie bleiben fremd und anonym. Die Anonymität wiederum ist die Basis für Liberalität, für die Freiheit des Einzelnen, die in Metropolen viel intensiver gelebt wird als in der Peripherie. Sie ist die Verheißung, die vor allem junge Menschen weltweit in die Metropolen zieht.
In den Werken der Fotografie- und Videokünstlerin Gudrun Kemsa werden Metropolen wie New York, London, Shanghai, Paris oder Berlin zu Schauplätzen jenseits touristischer Klischees. Zunächst ist sie eine aufmerksame Beobachterin bestimmter städtischer Räume, die zu Bühnen werden. Sie selbst sagt dazu:
„Die urbane Umgebung wird zu einer Bühne, auf der die Personen agieren. Das Licht ist hell und klar und fast wirkt es, als ob es nur dafür geschaffen wurde, die ganze Szenerie auf natürliche Weise perfekt auszuleuchten.“ Das natürliche Licht reflektiert an bestimmten Orten im städtischen Raum mit großflächiger Verglasung so, dass Licht- und Gegenlichtsituationen entstehen, wie man sie von Fotoshootings oder Filmszenen kennt, wo sie jedoch künstlich erzeugt werden. Gudrun Kemsa fokussiert diese sich (je nach Lichteinfall in den urbanen, eng bebauten Raum) ephemer ergebende Bühnenräume und lässt die dort befindlichen Passanten zu Akteuren werden, deren „Spiel“ sie fotografisch fixiert. Die Motive sind das Gegenüber, eine direkte Kommunikation (z. B. über Blickkontakte) findet nicht statt. Ihre Bewegungen werden scheinbar eingefroren; die Zeit steht für einen Moment still. Aus dem räumlich und zeitlich eng getakteten Großstadtalltag löst sie Szenen mit Passanten und Wartenden heraus, als wären es Tableaus vivants vor den Kulissen des globalisierten Konsums. Die Künstlerin bewegt sich mit dieser Perspektive in einem Spezialbereich der Fotografie, die als „street photography“ bezeichnet wird und seit dem frühen 20. Jahrhundert weltweit Szenen städtischen Lebens beobachtet und künstlerisch akzentuiert.
Auf den großformatigen Fotografien von Gudrun Kemsa agieren die anonymen Protagonisten inmitten der modernen urbanen Architektur wie in einem Filmset. Manche eilen vorüber, andere warten reglos vor Boutiquen oder an Straßenkreuzungen. Die Personen auf ihren Bildern sind Stellvertreter für Millionen Passanten, die ihren Zielen zusteuern. Sie werden auf der Bühne exponiert wie Schauspieler, zugleich bleiben sie anonym. Wir (Betrachtende der Fotografien) sehen sie perfekt ausgeleuchtet vor uns und wissen doch nichts von ihnen. Aber die Akteure wirken attraktiv, ebenso die architektonischen Kulissen. Sie wecken Aufmerksamkeit und Begehren.
Die Gegenstücke zu den großformatigen Fotografien im Tageslicht sind die Videos der Künstlerin im Untergrund der Stadt oder in der nächtlich erleuchteten Stadt, also in Szenerien, in denen künstliche Lichtquellen dominieren. Gudrun Kemsa bezieht auch hier die Position der stillen Beobachterin, die Menschen in U-Bahn-Stationen in den Blick nimmt oder aus städtischen Verkehrsmitteln heraus das urbane Leben aus der Ferne registriert. Nichts wird den einzelnen Sequenzen hinzugefügt, nichts wird weggelassen, doch werden die Sequenzen so miteinander verknüpft, dass ein zeitlich-räumlicher Versprung entsteht. Die Montage des Kamerablicks bzw. der Kamerafahrt in zwei zeitlich versetzten Projektionen (2-Kanal-Video) ist nicht immer sofort ersichtlich, aber dient dazu, in den Betrachter:innen den Eindruck eines permanent fließenden Stromes von Bewegungen, Räumen, Ereignissen zu suggerieren. Eine Bewegung, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint. Den repetitiven Rhythmus der nie stillstehenden städtischen Betriebsamkeit unterlegt sie zum Teil mit musikalischen Sounds, die diesen Rhythmus verstärken. Die sich wiederholende Bewegung erzeugt wiederum den Eindruck von seltsam zeitlosen Zuständen.
Wie sich Gudrun Kemsa den Phänomenen starker urbaner Verdichtung künstlerisch nähert, bei Tag und bei Nacht, ist mit dem Attribut „dokumentierend“ nicht zu erfassen. Dennoch zeigt sie, was potenziell Jede und Jeder in speziellen städtischen Situationen selbst erleben könnte. Ihre künstlerische Interpretation lässt diese Situationen zu etwas Besonderem werden, zu einer visuell-ästhetischen Verdichtung unserer Beziehungen zu Phänomenen, die weltweit rasant zunehmen: des menschlichen Lebens und Erlebens in Metropolen.
„Die Beobachtung der Schattenlänge eines vertikal ausgedehnten Objekts – eines Gnomons (griech. Schattenzeiger) – stellt den Beginn der Zeitmessung mittels Sonnenuhren dar. Manhattans Skyscraper wirken wie die Gnomone riesiger Sonnenuhren. Das Licht der Sonne bewegt sich um die Skyscraper herum und taucht die Straßen in einem festen Zeitrhythmus in Licht und Schatten. Szenen des Alltags sind zu bestimmten Zeiten hell erleuchtet und in gleißendes Licht getaucht – aber nur wenig später liegen sie schon wieder im dunklen Schatten. Es entstehen Bilder, die eine geradezu unwirkliche Kraft besitzen und uns die Schönheit alltäglicher Situationen deutlich machen. Die urbane Architektur wird zu einer Bühne, auf der die Protagonisten agieren. Das Licht in Manhattan ist hell und klar und fast wirkt es, als ob es nur dafür geschaffen wurde, die ganze Szenerie dieser riesigen Bühne auf natürliche Weise perfekt auszuleuchten. Es ist ein Licht, das moduliert, kontrastreich und kraftvoll ist – kühle Morgenstunden, strahlende Mittagssonne, grelles Licht und dunkle Schatten im Rhythmus des stetigen Laufs der Sonne.“ (Gudrun Kemsa, in: New York New York – Gudrun Kemsa, Kerber Verlag, Bielefeld 2020)