Anlässlich des Europäischen Monats der Fotografie im März 2023 in Berlin präsentiert der Heinz Hajek-Halke Estate vom 3.3. bis 29.4. seine erste Ausstellung in den Räumen CHAUSSEE 36 PHOTO FOUNDATION* (ehemals CHAUSSEE 36 PHOTOGRAPHY). Die Gruppenausstellung „Über das Fotografische hinaus“ widmet sich den Lichtgrafiken (1950-1960er) von Heinz Hajek-Halke im Dialog mit den neuen Pionieren des abstrakten Bildes.
Heinz Hajek-Halke (1898 – 1983), einer der bedeutendsten Fotokünstler des 20. Jahrhunderts, hat ein umfangreiches Werk geschaffen, das ganz im Zeichen des Experiments steht. Von den ersten Fotomontagen im Berlin der 1920er Jahre bis zu seinen abstrakten Werken der 1950er und 1960er Jahre hat Hajek-Halke, ein unklassifizierbarer Avantgardist, die Grenzen des fotografischen Mediums immer wieder neu ausgelotet.
Nach seinem Kunststudium in seiner Geburtsstadt Berlin wurde Hajek-Halke 1924 vom Presseverlag Dammert als Bildredakteur angestellt – der Beginn einer neuen Leidenschaft, die er sich als Autodidakt aneignete. Von diesem Zeitpunkt an arbeitete er als Pressefotograf für verschiedene Agenturen und lernte vor allem die experimentelle Arbeit in der Dunkelkammer kennen. Aus dieser Zeit stammen seine ikonischen Fotomontagen und Collagen, die in der illustrierten Presse und im Rahmen von Werbungen veröffentlicht wurden.
Nach seinem Rückzug an den Bodensee während des Dritten Reichs kehrte er in der Nachkriegszeit zu seiner experimentellen Tätigkeit zurück. 1949 bis 1952 war er Mitglied der Gruppe „fotoform“, außerdem war er mit abstrakten Künstlern aus seinem Umfeld in Kontakt.
Hajek-Halke gilt als Erfinder der Lichtgrafik, die er seit Anfang der 1950er immer weiter verfeinerte. Die Lichtgrafik ist eine technische Meisterleistung, die in der Dunkelkammer ohne Kamera ausgeführt wird und ihren Ursprung im Fotogramm hat. Anstatt (halb)transparente Objekte auf Fotopapier zu belichten, erstellte der Künstler ein neues Negativ aus einer kleinen Glasplatte oder einem Film, der in den Vergrößerer gelegt und auf Fotopapier belichtet wurde. Da die Herstellung dieses Negativs zahlreiche Variationen vom gleichen Motiv ermöglicht, erfordert sie einen vollständigen physischen Eingriff. Auflösen in einem warmen Bad, Einschnitte, Auslaufen von Tusche oder Fixiermittel, Hinzufügen von Klebstoff, Folien und Farbmasken: Alle Mittel sind gut, um die Oberfläche des Negativs vollständig zu verändern. Unter dem Einfluss des „gelenkten Zufalls“ verwandelt sich Hajek- Halke in einen Alchemisten, der Techniken aus der Fotografie, der Chemie und der Malerei miteinander verbindet, um neue Texturen und Strukturen entstehen zu lassen. Fantasiewelten – zwischen üppigen Vegetationen und kosmischen Landschaften – kommen zum Vorschein.
„Weil die Praktiken oft über das Fotografische hinausgehen spricht man hier eben am besten von Lichtgrafiken“, so Franz Roh im Vorwort von „Hajek-Halke – Lichtgrafik“ (1964).
Die Lichtgrafiken waren zu Lebzeiten des Künstlers Gegenstand zahlreicher Ausstellungen und einer späten Wiederentdeckung seit Anfang der 2000er Jahre. In der aktuellen Ausstellung wird zum ersten Mal eine Auswahl von Hajek-Halkes originalen Abzügen im Licht der zeitgenössischen experimentellen abstrakten Kunst betrachtet.
Von 1955 bis 1961 lehrte Hajek-Halke als erster deutscher Fotograf als Dozent für „Foto-Grafik“ an der Hochschule für bildende Künste Berlins. Durch seinen Unterricht und seine zahlreichen Schriften beeinflusste Hajek-Halkes Lichtgrafik eine ganze Generation experimenteller Fotografen, von seinem Schüler Floris Neusüss bis hin zu Gottfried Jäger, dem führenden Vertreter der „generativen Fotografie“.
Die Ausstellung „Über das Fotografische hinaus“ möchte die Fragestellung beleuchten, inwieweit das komplexe Thema der Lichtgrafik heute noch aktuell ist und was ein abstraktes Bild im postdigitalen Zeitalter bedeutet. Ausgehend von Hajek-Halkes eigener Klassifizierung seiner Lichtgrafiken wurden Werke von fünf Künstlern aufgrund ihrer experimentellen Innovationspotential als direkte Reaktion auf die verschiedenen Variationen von Lichtgrafiken ausgewählt. Sie zeigen Arbeiten vom analogen Fotogramm bis hin zur Abstraktion, die mithilfe künstlicher Intelligenz erstellt wurde.
In ihren Bodypaintings kreiert das deutsche Künstlerduo Banz & Bowinkel eine neue Bildsprache durch eine komplexe Arbeitsmethode, bei der die fortschrittlichsten Technologien zum Einsatz kommen. Die Drop Paintings, die an die Ästhetik einiger Lichtgrafiken erinnern, werden zwar durch Augmented Reality erzeugt, haben aber einen physischen Ausgangspunkt. Die Künstler nehmen die Bewegungen von Performern im Studio auf, bevor sie sie in einen virtuellen Raum übertragen. Das Ergebnis sind erstaunliche Farbspritzer, die in Virtual Reality entdeckt werden können oder in großformatigen Fotografien kristallisiert sind.
Giulia Bowinkel (*1983) und Friedemann Banz (*1980) haben beide an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Ihre Fotografien, Videos und Installationen wurden international ausgestellt.
Mit ihrer 2020 begonnenen Serie Polagramme tritt die junge Künstlerin Jana Dillo das direkte Erbe von Hajek-Halke an, indem sie ebenfalls eine neue Fotogrammtechnik entwickelt. Die Polagramme, die auf Sofortbildfilmen (Fuji FP-100 C) in der Dunkelkammer aufgenommen werden, bestehen aus der Erstellung von farbigen Miniatur-Fotogrammen. Eckige Formen und geworfene Schatten entstehen dann durch die Manipulation von farbigem Licht und Schablonen.
Jana Dillo wurde 1992 im Schwarzwald geboren und studiert seit 2018 Fotografie an der Kunsthochschule Essen. Ihre kürzlich erschienene, viel beachtete Serie von Polagrammen wurde bereits in mehreren Ausstellungen in Europa gezeigt.
Wie Hajek-Halke stellt auch Casey Reas (*1972, USA) den experimentellen Schöpfungsakt – hier das Programmieren – in den Mittelpunkt seiner Forschung. Doch was passiert, wenn die Computersoftware die Hand des Künstlers überwindet? In Process Compendium (2004-2014), einer Serie, die besonders repräsentativ für sein Werk ist, perfektioniert der Pionier der digitalen Kunst eine Custom Software, mit der er unendliche visuelle Kombinationen aus organischen Formen und mechanischen Strukturen entwickeln kann. Casey Reas lebt und arbeitet in Los Angeles, wo er an der University of California lehrt. Seine Werke wurden in den USA, Europa und Asien ausgestellt und befinden sich in den Sammlungen nationaler Museen wie dem Centre Pompidou oder dem San Francisco Museum of Modern Art.
In Daisuke Yokotas Color Photographs taucht eine kosmische Welt mit transparenten Formen auf. Um dies zu erreichen, entwickelte der junge Japaner radikale Methoden: unter anderem die Entwicklung von Farbnegativen in kochendem Wasser. Die Negative mit veränderter Emulsion werden dann gescannt und digital überlagert. Im post-digitalen Zeitalter, das von einer Flut immaterieller Bilder beherrscht wird, entschied sich Yokota, die Materialität des fotografischen Films zu erforschen, in Anlehnung an den Entstehungsprozess der Lichtgrafiken. Daisuke Yokota (*1983, Japan) ist einer der innovativsten experimentellen Fotografen seiner Generation. Seit der Verleihung des Foam Paul Huf Award im Jahr 2016 wird sein Werk weltweit präsentiert.
Text: Mathilde Leroy
* CHAUSSEE 36 PHOTO FOUNDATION, Chausseestr. 36, 10115 Berlin, Mi – Sa, 13 – 18 Uhr
https://www.chaussee36.photography/heinz-hajek-halke-estate-experiment
Bild oben: Heinz Hajek-Halke, Ohne Titel, 1960s, Lichtgrafik, analoger C-Print © Heinz Hajek-Halke Estate, courtesy CHAUSSEE 36