Sibylle Bergemann (1941–2010) gehört zu den bekanntesten deutschen Fotografinnen. Über mehr als vier Jahrzehnte schuf die Berlinerin ein außergewöhnliches Werk aus Stadt-, Mode- und Porträtaufnahmen sowie essayistischen Reportagen. Wiederkehrende Motive sind die Stadt, Frauen und immer wieder auch Hunde. Fernweh ist dabei wichtiger Antrieb für die fotografische Praxis weltweit: Dakar, Moskau, New York und Paris gehören zu ihren Zielen.
Mit einer Auswahl von über 200 Fotografien, davon 30 bisher unveröffentlicht, richtet die Ausstellung* einen retrospektiven und persönlichen Blick auf das Werk von Sibylle Bergemann. Sechs Kapitel – „Unsichtbare Beobachterin“, „Berlin“, „Frauen“, „Leningrad, Moskau, Paris, New York “, „Die Welt in Farbe“ und „Zurück in Berlin“ – führen thematisch und weitestgehend chronologisch durch das zwi- schen 1966 und 2010 entstandene Œuvre. Ein weiteres Kapitel, „Lebensorte“, präsentiert neben ihren Fotografien auch Bilder von Arno Fischer, Ute Mahler, Roger Melis und Michael Weidt, die Einblick in Bergemanns private und soziale Räume geben. Hier zeigt sich die Verbundenheit zu befreundeten Fotograf*innen in Ost-Berlin und zu internationalen Kolleg*innen.
UNSICHTBARE BEOBACHTERIN
Schon mit fünfzehn Jahren möchte Sibylle Bergemann Fotografin werden. Zunächst beginnt sie 1958 jedoch eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet in verschiedenen Betrieben als Sekretärin. Ab 1965 ist sie für die illustrierte Monatszeitschrift „Das Magazin“ in Berlin tätig. Hier lernt sie den Fotografen und ihren späteren Lebenspartner Arno Fischer (1927–2011) kennen, der damals an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Weißensee unterrichtete. Sie wird Teil eines inspirierenden Freundeskreises aus Künstlern, Mode- und Architekturstudenten. Durch ihre berufliche Routine und den intensiven Austausch mit befreundeten Fotografen wie Brigitte Voigt, Arno Fischer und Roger Melis stärkt sich in den 1970er Jahren ihre Position im Bereich der freien Fotografie.
BERLIN
Die Stadt ist und bleibt über Jahrzehnte hinweg ihr Thema: Sie überführt scheinbar Gegensätzliches subtil in poetische Schönheit. In der DDR setzt sie das abgerissene historische Amtsgericht in den Kontrast zur modernen Glasfassade des „Haus des Lehrers“. Im wiedervereinten Deutschland hält sie den Rückbau des Palasts der Republik, einst kulturpolitisches Symbol der DDR, vor dem neobarocken Berliner Domfest. Die Menschen in der Stadt fotografiert sie aus einer subjektiven Beobachtung heraus, in ihren sozialen Milieus oder städtischen Lebenswelten.
Generell versucht Bergemann, mit einer eigenen Bildsprache ihre künstlerische Autonomie jenseits des parteilich verordneten Bildkanons zu behaupten, ohne dabei Veröffentlichungsverbote zu riskieren. Sie ist auf den großen Ausstellungen wie der Porträtfotoschau der DDR (1971, 1981, 1986) und der IX. und X. Kunstausstellung der DDR (1982/83, 1987/88) vertreten. In den 1970er Jahren publiziert sie Texte und Bilder in der Zeitschrift „Fotografie“, die der Zentralkommission für Fotografie (ZKF) unterstellt ist. Hier beschreibt sie 1973 die Fotografie als „[…], eine sinnlich wahrgenommene und mitgeteilte Auffassung von Menschen und ihren Beziehungen, von Dingen und ihren Zusammenhängen […].“ Viele ihrer Fotografien sind in liberaleren Zeitschriften wie „Das Magazin“, „Sonntag“ und „Sibylle“ veröffentlicht.
Bergemann ist unter anderem von der französischen Fotografie inspiriert, etwa von Eugène Atget und Édouard Boubat. So unternimmt sie in der DDR wiederholt Anstrengungen, nach Frankreich zu reisen. Ihr eigenes, dem Menschen zugewandtes Selbstverständnis findet sie auch in der von Edward Steichen kuratierten Wanderausstellung (1955, New York und Berlin) und dem Katalog „The Family of Man“ wieder. Sie sieht sich darin bestätigt, dass sich die Fotografie als Berufsfeld kultur- und gesellschaftspolitisch etablieren lässt, ohne den Anspruch auf individuelle Urheberschaft aufzugeben.
Für ihre berühmteste Serie „Das Denkmal“ (1975–1986) findet sie eigene, ungewöhnliche Bildlösungen. Über elf Jahre hinweg, erst aus Freundschaft und später im Auftrag des Ministeriums für Kultur der DDR, besucht sie den Bildhauer Ludwig Engelhardt (1924–2001) in seinem Atelier auf Usedom. Sie wird Zeugin der von Ideologien und Debatten durchzogenen Entstehung des Denkmals für das Berliner Marx-Engels-Forum. Final wählt Bergemann jene Fotos aus, die Einzel- und Sinnbilder zugleich sind: fragmentierte Körper, geometrische Formen und vielfältige Materialien. Nach der Maueröffnung wird die schwebende, am Kran hängende Friedrich-Engels-Figur medial häufig als Sinnbild für das Ende der DDR verwendet.
FRAUEN
Bilder von Frauen prägen das Œuvre der Fotografin. Oft sind es Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Autorinnen und Mannequins, die Bergemann aus ihrem Selbstverständnis als Frau fotografiert. Ausdruck und Pose der Dargestellten sind mal humorvoll und aufsässig, mal lässig und stolz. Sie möchte „die Wirklichkeit in die Bilder bringen“, hält sie 1994 fest. Das flüchtig Gegenwärtige zeigt sich auch in ihren Modefotografien. Es ist nicht die geplante, in der DDR wenig geläufige Studio-Fotografie, die Bergemann reizt. Sie will Mode situativ in natürlichen Lebensräumen aufnehmen. 1993 sagt sie im Interview mit der ehemaligen Sibylle-Redakteurin Dorothea Melis: „Wetter und Licht sind immer ein Risiko, aber aus der Improvisation entstehen oft unerwartet schöne Bilder.“ Trotzdem sind die Modeserien thematisch und konzeptuell vorbereitet. Während der Foto-Sessions dirigiert und arrangiert Bergemann ihre Modelle. „[B]ei der Mode“, so die Fotografin 2007, „da muss man schon ganz genau wissen, was man will, und muss den Leuten das auch sagen.“
NEUBEGINN
Auch im wiedervereinten Deutschland sichert Bergemann ihre fotografische Autonomie: Im Oktober 1990 gründet sie zusammen mit Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“. Sie setzen sich zum Ziel, durch gegenseitige Unterstützung im westlichen Betrieb selbstständig zu bleiben und die eigenen Bildrechte zu sichern.
Ab den 1990er Jahren erhält Bergemann auch Aufträge von Zeitschriften wie „Zeit-Magazin“, „Stern“ oder „The New York Times Magazine“ und ab 1997 für „Geo“. Als sie 1999 für ihre erste „GEO“- Bildreportage in den Jemen reist, hat das nachhaltigen Einfluss auf ihr Werk. Ihre Karriere entwickelt sich auch in Farbe weiter, die im internationalen Bildjournalismus fast zur Pflicht geworden ist. Bergemann vergrößert ihre Farbfotografien von nun an selbst und steht dafür stundenlang in der Dunkelkammer: „… sonst sind das nicht meine Bilder“ (2007). Bis 2010 reist sie für „Geo“ unter anderem nach Ghana, Mali, Portugal und in den Senegal. In Dakar fotografiert sie 2001 die Kollektionen der senegalesischen Modeschöpferin Oumou Sy.
„Gute Bilder kann man nicht erzwingen, man kann sie nur in Empfang nehmen […]“, beschreibt die „Geo“-Journalistin Johanna Wieland Bergemanns Arbeitsweise. Über vier Jahrzehnte hinweg war Bergemann dafür weltweit unterwegs. Eine Kamera hatte sie mindestens immer dabei. Sei es für die Mode- und Porträtfotografie oder für die Reportage. Frei oder im Auftrag – sie folgte ihrer Begabung, Essenzen des Wahrnehmbaren aus der Beobachtung in die Fotografie zu überführen.
Das Projekt wird ermöglicht durch den Förderverein der Berlinischen Galerie und entsteht in enger Kooperation mit dem Estate Sibylle Bergemann. Anlässlich der Ausstellung erscheint ein vierteiliges Audio-Feature über die Fotografin Sibylle Bergemann. Es ist in der Ausstellung sowie als Podcast auf der Website der Berlinischen Galerie und bei Spotify verfügbar. Ein Katalog zur Ausstellung wird im Hatje-Cantz Verlag erscheinen.
*Sibylle Bergemann – Stadt Land Hund, Fotografien 1966–2010, 24. Juni – 10. Oktober 2022, Mittwoch – Montag, 10 – 18 Uhr, Dienstag geschlossen, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Alte Jakobstraße 124 –128, 10969 Berlin