Wir befinden uns inmitten einer Reihe von Umbrüchen, die unser gesellschaftliches Leben prägen. Die Ausstellung »Passagen« setzt sich auf vielfältige Weise mit genau dieser Thematik des Durch- und Übergangs (französisch ›passage‹) auseinander.
Im Wintersemester 2021/22 wurde im Rahmen einer Kooperation mit der Masterklasse von Prof. Dr. Steffen Siegel (Theorie und Geschichte der Fotografie) an der Folkwang Universität der Künste in Essen die Ausstellung Passagen erarbeitet. Gemeinsam mit den Studentinnen und Studenten wurde gesichtet, diskutiert, Pläne wurden ent- und wieder verworfen, schließlich eine Auswahl getroffen und kuratiert. Mit Blick auf die dramatische politische Situation in Europa ist eine erschreckend aktuelle Zusammenstellung entstanden.
Die Reflexion von sozialen und politischen Transformationsprozessen und gesellschaftlichen Umbrüchen findet in der Werkschau ebenso ihren Niederschlag wie die von kultischen Übergangsritualen oder Schwellenerfahrungen im persönlichen (Er-)Leben. In Umwelt, Natur, Politik und Gesellschaft treten bisweilen markante Ereignisse ein, die uns zu einem anderen Handeln auffordern. Klimatische Veränderungen, Krankheiten oder kriegerische Auseinandersetzungen zwingen uns, nicht nur einzelne Handlungen, sondern unsere Haltung insgesamt zu überdenken und anzupassen. Künstlerinnen und Künstler setzen sich seit jeher mit Veränderungen auseinander und finden dafür immer wieder eine angemessene Bildsprache. Dabei kann auch das gewählte Material eine »Passage« im Sinne eines Durch- oder Übergangs darstellen, wenn vorhandene Gegenstände in eine andere Beschaffenheit oder Konstellation überführt und somit neu aufgeladen werden.
In den Arbeiten von Beatrice Minda (* 1968, München, Deutschland), Manfred Paul (* 1942, Schraplau, DDR), Stephan Schenk (* 1962, Stuttgart, Deutschland), Sven Johne (* 1976, Bergen auf Rügen, DDR) und Richard Mosse (* 1980, Kilkenny, Irland) werden verschiedene historische Ereignisse thematisiert. Es geht um politische Krisen in Myanmar, den Fall der Berliner Mauer, den Ersten Weltkrieg, Fluchtbewegungen in Europa und ein Lager für syrische Geflüchtete in der Türkei.
Lilly Lulay (* 1985, Frankfurt am Main, Deutschland) inszeniert in ihrem Film
»Istanbul up and down«, 2015 ein sinnlich poetisches Stadtporträt. In Timo Kahlens (* 1966, Berlin, Deutschland) knapp 5-minütigem Film »Holding My Breath«, 2020 geht es um Formen der Selbstreflexion zu Lockdown-Zeiten während der Corona-Pandemie. Als Gegenüber präsentieren wir die großformatige Spiegelarbeit »Subtraction as Addition«, 2012 von Raphael Hefti (* 1978, Boudevilliers, Schweiz), die uns mit den Phänomenen von Lichtbrechung und Undurchsichtigkeit, von Reflexion als Ent- und Verspiegelung und damit auch mit unserem Sehen konfrontiert.
Christian Boltanski (1944–2021, Paris, Frankreich) beschäftigt sich mit der Veränderung von Körperlichkeit, dem Übergang vom Leben in das Verschwinden durch den Tod, wohingegen bei Sandra Kranich (* 1971, Ludwigsburg, Deutschland) die Veränderung des Materials im Fokus steht. Die Verwandlung der Funktion einer Person durch spezifische Gewänder thematisiert Gwenneth Boelens (* 1980, Soest, Niederlande) in ihrem Fotogramm »Liar’s cloth (guileless note)«, 2015.
Neben den Erzählungen, die mit den jeweiligen Motiven einhergehen, haben wir in dieser Ausstellung versucht, auch die Geschichte der fotografischen Materialvielfalt in den Blick zu nehmen. Wohl am deutlichsten erkennbar wird der Transformationsprozess des Materials in der Arbeit »Wait and See«, 2022 des Künstlerpaares Françoise Cartier (* 1952, Tavannes, Schweiz) und Daniel Cartier (* 1950, Biel, Schweiz). Unter Verwendung von unbelichteten analogen Fotopapieren aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert präsentiert das Künstlerpaar ein Tableau, das uns die Vielfältigkeit eines Materials vor Augen führt, das es aufgrund der digitalen Entwicklung heute immer weniger gibt. Die für diese Ausstellung angefertigte ortsspezifische Arbeit wird erst am Eröffnungsabend enthüllt, sodass die unbelichteten Papiere erstmals auf das Licht reagieren und sich dann über die gesamte Laufzeit der Ausstellung stetig weiter verändern.
Die Vielfalt des Materials und der Techniken in dieser Ausstellung reicht von den dokumentarischen Erzählstrukturen bei Sven Johne und Beatrice Minda über filmische Momentaufnahmen bei Timo Kahlen und Lilly Lulay bis hin zur Philosophie des Fotografischen bei Raphael Hefti. Sie schließt Plastiken von Sandra Kranich genauso ein wie die Tapisserien von Stephan Schenk oder die kameralosen Fotografien von Gwenneth Boelens und Christian Boltanski.
Dabei spielen immer wieder auch fotografische Verfahren eine entscheidende Rolle, wie der Einsatz der Wärmebildkamera von Richard Mosse und die Polaroids von Manfred Paul zeigen. Jedes Material untermauert dabei eine andere inhaltliche Struktur.
Für die Studentinnen und Studenten der Folkwang Universität der Künste in Essen bot das Projekt einen Einblick in das kuratorische Arbeiten. Aus den insgesamt rund 10.000 Werken der DZ BANK Kunstsammlung wurden zunächst über 1.000 Werke zu den Themengebieten »Wandel, Veränderung, Passage« ausgewählt und dann auf die 28 im Zusammenhang prägnantesten Arbeiten reduziert. Zudem waren die Studentinnen und Studenten dazu eingeladen, eigene Texte zu den ausgewählten Werken für die Publikation zu verfassen, die eine teils nüchtern (kunst-)wissenschaftliche, teils poetische Form haben.