Andreas Mühe zählt zu den bekanntesten Künstlern in Deutschland. In seinen Fotografien befasst er sich mit soziologischen, historischen und politischen Themen, die er in besonderen Umgebungen aufwendig mit Lichtkontrasten inszeniert. Das Städel Museum zeigt bis zum 19. Juni 2022 eine Einzelausstellung mit rund 45 Arbeiten, darunter bekannte und unbekannte Werkzyklen aus seinem bisherigen Œuvre sowie die erstmals präsentierte Serie Biorobots II (2021).
Andreas Mühe beschäftigt sich in seinen Werken mit der Zuschreibung zu kollektiven Kategorien wie Familie, Nationalität, Politik oder Kultur als Konstrukt einer sozialen Ordnung. Ikonisch sind seine Porträts von Angela Merkel, die er als Bundeskanzlerin auf mehreren Reisen begleitete und deren Habitus er eingängig analysierte. Wie sehr diese Aufnahmen von einer politischen Bildsprache bestimmt sind, wird in weiteren Fotografien der Kanzlerin deutlich, auf denen die Mutter des Künstlers als Double zu sehen ist. Was echt, was inszeniert ist, verschwimmt – sowohl in den offiziellen wie in den nachgestellten Fotografien. Auch Mühes in Wandlitz fotografierte Häuser der SED-Führung wirken im dunklen Umraum wie Attrappen und lassen ihre historische Rolle nicht erkennen. Mühe verwendet eine Großbildkamera, die aufgrund ihrer schweren Handhabung eine komplexe Komposition voraussetzt. Mit pointierter Ästhetik zeigt er historische Ereignisse oder deren Orte in einer überzeitlichen Nachinszenierung. Er sucht nicht Abbilder, sondern Bilder, in denen er die gegebenen Inhalte – Menschen, Architektur oder Landschaften – neu interpretieren kann. Mit den Sehgewohnheiten des Betrachters spielend, schließen Mühes Arbeiten an Städel Werke seiner Fotografen-Kollegen Rodney Graham oder Thomas Demand an.
„Es sind die Auseinandersetzungen mit Brüchen in der Gesellschaft, mit Gewalt, mit deutsch-deutscher Identität sowie die Befragung seiner selbst und der eigenen, komplexen Familiengeschichte, die sein Schaffen bestimmen. Das Städel Museum präsentiert als erste Ausstellung im Jahr 2022 Fotografien von Andreas Mühe. Erst jüngst konnten wir für die Sammlung sein Werk Unterm Baum aus dem Jahr 2008 erwerben. Wie kaum ein anderer Fotograf der Gegenwart wühlt Andreas Mühe akribisch in der deutschen Geschichte und unserer Erinnerungskultur“, so Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums.
Kristina Lemke, Sammlungsleiterin Fotografie und Kuratorin, über die Ausstellung: „Andreas Mühes Fotografien fordern wie in einem Vexierspiel immer einen zweiten Blick. Seine Arbeiten wirken zunächst bekannt, doch Mühe bricht mit den Erwartungen und zeigt, wie trügerisch ästhetisierte Bilderwelten sein können.“
Andreas Mühe (geb. 1979 in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz) lebt und arbeitet in Berlin. Nach einer klassischen Ausbildung zum Fotolaboranten bei PPS Berlin und Labor Pixel Grain machte sich Mühe 2001 als freischaffender Fotograf selbstständig. Spezialisiert auf Porträt- und Magazinfotografie nahm er in den ersten zehn Jahren seiner Karriere Aufträge für das „Süddeutsche Magazin“, „Die Zeit“, „Monopol“ oder „Vanity Fair“ an. Die Arbeiten von Mühe wurden national und international präsentiert. Großangelegte Einzelausstellungen fanden in den Deichtorhallen Hamburg (2017) und in der Berliner Nationalgalerie Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst, Berlin (2019) statt, und sorgten für viel Aufsehen. Der Künstler erhielt zahlreiche Fotografie-Preise.
Andreas Mühe porträtierte gleich mehrfach Angela Merkel und begleitete sie auf Reisen nach Indien, New York oder Washington. Im Jahr 2008 entstand sein bis heute bekanntestes Werk der Bundeskanzlerin a. D.: In „Unterm Baum“, wie der schlichte Titel des Werkes lautet, inszenierte er Merkel in denkbar ungewöhnlicher Umgebung im Botanischen Garten von Berlin. Gedankenversunken und vom Betrachter abgewandt betrachtet sie einen Teich. Mühe spielt mit dem visuellen Gedächtnis des Betrachters. Denn erst auf den zweiten Blick geben Hosenanzug und Frisur als typische Merkmale Angela Merkels ihre Identität preis. Doch der Eindruck, hier Zeuge eines Momentes von Privatheit zu sein, täuscht. Dagegen spricht die streng kalkulierte Komposition: Direkte Beleuchtung und starke Kontraste lassen die Szenerie wie aus einer Theaterkulisse wirken. Natur und Mensch, Privatheit und Inszenierung kontrastieren miteinander und bedingen sich gegenseitig.
Sie repräsentiert Deutschland auf nationaler und internationaler Bühne. Und doch hat Angela Merkel als Bundeskanzlerin das Land auf ihren vielen Reisen meist nur aus dem Auto gesehen. Mit dieser Vorstellung spielt Mühe in der Serie A.M. – Eine Deutschlandreise: Von der Zugspitze bis zur Villa Hügel der Industriellenfamilie Krupp blickt die Politikerin auf historisch bedeutsame Orte, die durch die Rahmung des kleinen Fensters wie Postkartenmotive erscheinen. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit gar nicht um Merkel: Andreas Mühe inszeniert seine eigene Mutter mit Perücke und maßgeschneidertem Jackett als Double. „Der Betrachter ist verantwortlich für das, was in seinem Kopf passiert, nicht der Fotograf“, äußert sich Mühe zu der Arbeit. Die Darstellung und Wahrnehmung von historisch bedeutsamen Personen und Orten resultiert letztlich aus persönlichen Erinnerungen, die über Medienbilder geprägt wurden – mit allen Unschärfen und Manipulationen.
In der Bilderserie Obersalzberg beschäftigt sich Andreas Mühe mit Propagandabildern aus der Zeit des Nationalsozialismus. Adolf Hitler und andere Politiker bedienten sich der Fotografie, um die eigene Bekanntheit zu steigern und die Massen politisch zu manipulieren. Leni Riefenstahl avancierte mit staatlicher Förderung zur international bekanntesten Filmregisseurin und Propagandistin des Nationalsozialismus. Mit ihrem Kameramann Walther Frentz trug sie maßgeblich zur medialen Vermittlung und Etablierung des „Führerkults“ bei, der propagandistischen Inszenierung Hitlers. Mühe stellt die tradierten Bildformeln mit uniformierten Statisten und bekannten Requisiten in der gewaltigen Bergkulisse des Obersalzbergs nach, dem zum zweiten Regierungssitz ausgebauten Feriendomizil Hitlers. Dabei entlarvt er die leeren Posen der Porträtierten und die pathetische Aufladung ihrer Umgebung, indem er sie in verkrampfter Haltung oder beim Urinieren zeigt.
Die Serie zum Selbstporträt stammt aus dem Werkzyklus Mischpoche, in dem Mühe sich mit seiner eigenen Familiengeschichte und dem Begriff der „Identität“ auseinandersetzt. In akribischer Handarbeit hat er nahestehende Familienmitglieder und auch sich selbst als Silikonfiguren nachbauen lassen und anschließend fotografisch arrangiert. Die zur Werkgruppe gehörenden Kopfstudien sind als Vorstufen zu begreifen und fungieren auch als Einzelwerke. In 24 Aufnahmen hält Mühe den Zerfall seiner Büste fest, den er durch manuelle Kälte- und Wärmezufuhr beschleunigt. Die verschiedenen Stadien stehen für die Facetten des eigenen Ichs zwischen Selbstbild und Fremdbild – sowie der Problematik, sich diesem Thema anzunehmen.
Über den Felsenkamm und die Baumlandschaft hinweg fällt der Blick auf das Meer. Die Szenerie erscheint in ihrer Flächen- und Raumkomposition und mit der künstlichen Beleuchtung wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. In der überwältigenden Naturlandschaft wirkt die unscheinbare Figur fast verloren. Die Nacktheit und die Haltung der linken Hand irritieren. Mühe wendet dadurch die in der deutschen Kunstgeschichte geprägten Pathosformeln, die wiederkehrende Gestik und Mimik von Figuren zum Ausdruck von Emotionen, ins Absurde. In den historischen Bildern der Romantik dient die Darstellung der imposanten, anmutigen Natur dazu, die irdische Endlichkeit des Menschen vorzuführen. Im Werkzyklus Neue Romantik bedient sich Mühe dieses ästhetischen Konstrukts um auch mit einer deutsch-kulturellen Identität zu brechen.
In den einfachen Häusern der Waldsiedlung Wandlitz wohnten in Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hohe Funktionäre des sozialistischen Staates. Die schlichte Architektur steht im klaren Gegensatz zur einstigen politischen Bedeutung ihrer Bewohner. Das streng bewachte Wohngebiet war für Außenstehende zur damaligen Zeit unerreichbar. Mühe nimmt in seiner Arbeit den Bauten ihre Unscheinbarkeit und erzeugt eine atmosphärische Stimmung der Beklommenheit: Die geschlossenen Gardinen markieren dabei eine Distanz zur Außenwelt. Der Bildhintergrund bleibt im Dunklen, so dass die Hausfassaden im bühnenartig inszenierten Vordergrund wie entrückte Attrappen wirken.
Die sogenannten „Liquidatoren“ waren die ersten Helfer zur Eindämmung der Kontaminierung beim Reaktorunfall in Tschernobyl von 1986. In der internationalen Presse wurden sie unter dem englischen Begriff „Biorobots“ bekannt. Rund 600.000 Menschen wurden auf staatlichen Erlass aus der ganzen Sowjetunion einberufen. Durch die starken Strahlungen starben zahlreiche Helfende vor Ort oder kurze Zeit später an den Folgeschäden. Insgesamt gab es über eine halbe Million Opfer. Die heute in Vergessenheit geratenen Arbeiter macht Mühe zum Thema einer Serie. In einem scheinbar leeren Raum vor dunklem Hintergrund werden die Figuren mittels direkter Beleuchtung von oben oder seitlich wie auf einer Theaterbühne inszeniert. Viel zu sauber und steril wirkt die Kulisse in Anbetracht der realen, historischen Katastrophe. Minutiös sind die Kostüme nachgestellt, doch die Gesichter bleiben hinter dicken Gasmasken im Verborgenen. Sind hinter der Kleidung echte Menschen zu finden? Die Wirkungsästhetik bei Mühe ist immer zweideutig: ihrer statuarischen Haltung und der steifen Kleidung ebenso ehrfurcht- wie furchteinflößend.
Als Mühe den Werkzyklus Tschernobyl fertigstellte, konnte er aufgrund der Corona- Pandemie die Arbeiten nur bedingt ausstellen. Gleichzeitig erhielt die historische Begebenheit der Reaktorkatastrophe von 1986 eine neue Aktualität, die den Fotografen zu einer Fortführung des Themas inspirierte. In Biorobots II beschäftigt er sich mit der Vorstellung einer apokalyptischen Welt. Die Bauten erscheinen in ihrer Gleichförmigkeit wie Baracken in einer atmosphärisch kühlen, homogenen Umgebung, wo ein (Über-)Leben nur physisch eingeschränkt möglich ist. Die Hilflosigkeit der in vollständiger Schutzausrüstung gekleideten Protagonisten wird mit deren scheinbar willkürlichen Beschäftigungen nochmals versinnbildlicht.
Das Städel Museum bewahrt über 5.000 Fotografien aus den Anfängen des Mediums bis zur Gegenwart. Mehr zeitgenössische Fotografie ist in der Dauerausstellung in den Gartenhallen und digital zu entdecken. Das CLOSE UP Fotografie & Malerei als digitale Anwendung untersucht das Verhältnis der vermeintlich konkurrierenden Medien. Welche Rolle nimmt die Fotografie in der Kunst ein? Welche Auswirkungen hat sie auf die Malerei? Verbindungslinien zwischen Kunst und Gesellschaft, sowie historische Zusammenhänge werden aufgedeckt.
*ANDREAS MÜHE. STORIES OF CONFLICT, Ausstellungsdauer: Bis 19. Juni 2022, Kuratorin: Dr. des. Kristina Lemke (Sammlungsleiterin Fotografie, Städel Museum) in enger Zusammenarbeit mit Andreas Mühe, Ort: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main