Mit der ersten Präsentation der Ausstellung Cristal réel der deutsch-französischen Künstlerin Isabelle Le Minh (*1965) in Deutschland kommt vom 27. Juni bis 6. September die normalerweise im Verborgenen bleibende Archivarbeit der Alfred Ehrhardt Stiftung zur Geltung: die Inventarisierung von ca. 20.000 Fotografien und Restaurierung von 1.000 Glasplatten.
Diese Archivarbeit bietet nicht nur den Humus für weitere kunsthistorische Forschungen, sondern auch Inspiration für neue künstlerische Auseinandersetzungen.
Der Aufgabe, sich mit Alfred Ehrhardts Werk auseinanderzusetzen, haben sich schon einige zeitgenössische Künstler gestellt. Aber noch nie wurde Ehrhardts Werk so intensiv, direkt und tiefschürfend interpretiert wie von Isabelle Le Minh. Ihre neue Arbeit ist Teil ihrer Werkgruppe After Photography, mit der sie die Werke von Meisterfotografen neu interpretiert und deren Schaffensweisen hinterfragt. Nach ihrer Auseinandersetzung mit Henri Cartier-Bresson, Hiroshi Sugimoto sowie Bernd und Hilla Becher folgt nun Alfred Ehrhardt.
Isabelle Le Minh thematisiert die fotohistorischen Bedingungen wie fototheoretischen Hintergründe der Fotografie, indem sie in ihrer künstlerischen Arbeit auf konzeptuelle Weise Teilaspekte des fotografischen Archivs hervorhebt. Dafür wählte sie mit Alfred Ehrhardts Kristallefotografien eines seiner faszinierendsten Konvolute, das aus 600 Fotografien und 400 Glasnegativen besteht. Nicht von ungefähr, denn Le Minh hat vor ihrem Kunststudium Kristallografie studiert – sie versteht die Welt der regelmäßig geformten Kristalle auch aus naturwissenschaftlicher Sicht. Der Ausstellungstitel Cristal réel ist ein Begriff der Kristallografie und bezeichnet unvollkommene Kristalle, wie sie in der Natur vorkommen.
Die Ausstellung basiert auf zwei neuen Serien: Kristallklar und Cristallogrammes. In Kristallklar kombiniert Le Minh Ehrhardts Negative inklusive ihrer Fehler und Retuschen mit Aufnahmen von im Internet gefundenen Landschaften der jeweiligen Herkunftsorte dieser Kristalle. Die Künstlerin spielt mit dem ambivalenten Charakter der Fotografie: zum einen ist sie sachliches Dokument, zum anderen ist sie subjektive Konstruktion; einerseits behandelt Ehrhardt Kristalle als wissenschaftliche
Forschungsgegenstände, andererseits macht er sie zu Objekten seiner ästhetischen Weltanschauung. Cristallogrammes ist eine Serie von Fotogrammen, bei denen kleine, abstrakte Konstruktionen aus fotografischen Archivmaterialien auf lichtempfindlichem Papier so platziert werden, dass sie in ihrer endgültigen Form aussehen wie Kristalle.
Krönendes Highlight der Ausstellung ist die Aufnahme eines zur Skulptur aufgeworfenen Arrangements aus Kristallografie-Büchern, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Kristallefotografie von Alfred Ehrhardt.