Das „Verborgene Museum“* in Berlin widmet sich vom achtzehnten Oktober bis zum zehnten März dem Leben und Werk der niederländischen Fotografin Maria Austria. Zu sehen sind rund einhundert Schwarz-Weiß-Fotografien und Dokumente, die zuvor im Joods Historisch Museum, Amsterdam ausgestellt waren.
Die Bilder vom Leben auf der Straße entstanden in den 1950er und 1960er-Jahren, Szenen von den Bühnen der Experimentaltheater und – zum ersten Mal zu sehen – Aufnahmen vom „Achterhuis“, dem Versteck der Familie von Anne Frank während der Zeit ihrer Verfolgung.
Maria Austria (Marie Karoline Oestreicher) wird 1915 in eine gutsituierte, jüdische Familie in Karlsbad (Karlovy Vary) hineingeboren. Im Sommer 1933 reist sie mit Leica und Rolleiflex im Gepäck nach Wien, um an der »Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt« eine Ausbildung zur Fotografin zu machen, die sie mit der Note »gut« abschließt. Von Anfang an war sie an den Prozessen in der Dunkelkammer interessiert, hat sie ihre Negative selbst entwickelt. Als freie Fotografin erprobt sie sich beim Portraitieren, macht Reportagen für Zeitschriften und entwickelt besonderes Interesse an den avantgardistischen Theaterbühnen um den Wiener Naschmarkt. Im Sommer 1937 trifft sie die weitsichtige Entscheidung, nach Amsterdam zu emigrieren, wo ihre Schwester, die Bauhäuslerin und Textilgestalterin Lisbeth Oestreicher, bereits lebt.
Zusammen richten sie das Atelier »Model en Foto Austria« ein. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande am 10. Mai 1940 verändert sich ihr Leben grundlegend. Sie lehnt es ab, sich als Jüdin der Meldepflicht zu stellen, verdient ihren Lebensunterhalt im Portugiesisch-Israelitischen Krankenhaus bis sie untertauchen muss. Dabei lernt sie ihren späteren Lebensgefährten, den Widerstandskämpfer Henk Jonker, kennen. Am 5. Mai 1945 geht in den Niederlanden der Zweite Weltkrieg zu Ende. Das Leben war noch von Zerstörung und Tod gezeichnet, aber auf den Straßen beginnt sich eine Atmosphäre von Aufbruch und Neubeginn durchzusetzen. Fotografinnen und Fotografen bekommen von den kanadischen Alliierten Filmmaterial gestellt und dürfen mit Genehmigung der Nationalen Streitkräfte für die freie niederländische Presse das Leben in den zerstörten Städten dokumentieren. Es sind Bilder von hungernden und zerlumpten Kindern, von Heimkehrern, Kriegsopfern und immer wieder erschreckende Aufnahmen von Leichen. Um die Aufteilung der Aufträge und den Verkauf der Fotografien besser zu organisieren gründet Maria Austria mit Kollegen die Foto-Agentur »Particam« (Partisanen-Camera). Innerhalb der Fotografie entwickelte sich europaweit der Neorealismus, der von Menschlichkeit und Mitgefühl getragenen Idee einer besseren Gesellschaft, von der auch Maria Austrias Fotografien der 1950er Jahre erzählen.
Unter Szenen vom Leben in den Städten und Straßen, in den Cafés, auf den Märkten und Spielplätzen findet sich auch die Aufnahme »Amsterdam 1950«: ein typisches Motiv des Holländers mit seinem Fahrrad, einem robusten Tourenrad mit aufrechter Sitzposition, das zur Identität eines jeden Niederländers gehört. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam zum Sinnbild der Befreiung, hatten doch die deutschen Besatzer 1944 die Fahrräder konfisziert und damit der Bevölkerung ganz bewusst ihre Beweglichkeit genommen. Im Laufe der Jahre fühlt sich Maria Austria immer stärker von der internationalen Szene des Experimentaltheaters angezogen, deren Darstellerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt in Amsterdam ihr Zentrum gefunden haben. Als Hausfotografin des Mickery Theaters, der für freie Gruppen wichtigsten Bühne in Europa, fotografiert sie mit Leidenschaft die Gastspiele der La Mama-Truppe aus New York und die Auftritte des Tenjo Sajiki -Theaters aus Japan, die beide in den 1960er-Jahren als konsequentes Avantgarde-Theater galten.
Der Fotografin gelingt die Übertragung der auf der Bühne inszenierten Aggressionen in ihre streng komponierten, ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotografien. Bekannt geworden ist die Fotografin auch durch ihre Portraits aus der internationalen Künstler- und Künstlerinnenszene, z.B. von Benjamin Britten, Maria Callas, Albert Schweitzer, Josefine Baker, Martha Graham, die wie sie selbst davon überzeugt waren, in Wort, Bild und Ton am Aufbau einer neuen, besseren Welt mitzuwirken. Noch nie zuvor zu sehen waren Austrias Aufnahmen vom sogenannten »Achterhuis«. Dabei handelt es sich um das Hinterhaus in der Prinsengracht 263-267, in dem sich unter acht jüdischen Verfolgten auch die Familie Frank mit den beiden Töchtern Anne und Margot von 1942 bis zum Verrat 1944 vor der Gestapo versteckt gehalten haben.
Publikation zur Ausstellung: Martien Frijns, Maria Austria – Fotografe, niederländisch, 784 Seiten, Farb- und Schwarz-Weiß Abb., Arnhem 2018, ca. 35,- Euro. Broschüre in Deutsch, ca. 20 Seiten, ca. 5 Euro.
*Das Verborgene Museum Schlüterstraße 70 10625 Berlin