Das Fotomuseum Winterthur zeigt vom 28. Mai bis 28. August 2016 die bisher größte Ausstellung zu der japanischen Zeitschrift Provoke, die zwischen November 1968 und August 1969 in drei Ausgaben erschien und als einer der Höhepunkte der Fotografie der Nachkriegszeit gilt. Das Fotomuseum bietet damit einen umfangreichen Einblick rund um die Entstehungsgeschichte der Zeitschrift, ihre innovative Ästhetik und die massgeblich Beteiligten. Die 1960er und 1970er Jahre markieren eine turbulente Zeit in der japanischen Geschichte: Arbeiter, Bauern und Studenten protestierten nicht nur gegen die Geschwindigkeit, mit der die Modernisierung des Landes vorangetrieben wurde, sondern auch gegen Japans Bündnis mit den USA im Kalten Krieg. Die Ausstellung zeigt auf, wie stark die Fotografie in die ästhetischen und politischen Debatten der Zeit eingebunden war und ältere dokumentarische Formen hinterfragte und erneuerte. Mit rund 250 Objekten bringt Provoke Fotografien und Publikationen von einigen der einflussreichsten Fotografen Japans wie Nobuyoshi Araki, Daidō Moriyama, Takuma Nakahira und Shōmei Tōmatsu zusammen.
Die Zeitschrift Provoke fand in dieser Kultur der turbulenten Erneuerung dieser Zeit ihren Nährboden. Ihre Herausgeber, der Dichter und Kunstkritiker Takahiko Okada, die Theoretiker/Fotografen Takuma Nakahira und Kōji Taki sowie die Fotografen Yutaka Takanashi und Daidō Moriyama glaubten, dass sich die traditionelle Reportage erschöpft habe und suchten nach einer Bildsprache, mit der sich die Wahrnehmung einer sich rasant verändernden Moderne erneuern liess. Die Fotografie bildete nicht mehr die Realität ab, sondern war zum Anreiz für theoretische Überlegungen zur Beziehung von Kunst, Sprache und Gesellschaft geworden. Berühmt wurde das Magazin auch für seine Ästhetik des are-bure-boke (rauh, körnig, unscharf), das mit älteren, objektivierenden Formen eines dokumentarischen Humanismus brach. In ihren Experimenten mit verschiedenen fotografischen Reproduktionsweisen lieferten sich die Beteiligten mit anderen fotografischen Medien einen Schlagabtausch. Ihre Aufgabe war die Erneuerung der Bildfindung in einer zunehmend von Medienkonstruktionen beherrschten Gesellschaft.
Schliesslich untersucht die Ausstellung die Fotografie als eine Variante der japanischen Performance-Kunst sowie ihre Rolle bei der Dokumentation von Live-Aktionen. Hier geht es unter anderem um Kollaborationen von Fotografen und Künstlern, wie im Fall von Eikō Hosoe und dem Tänzer Tatsumi Hijikata, aber auch um die Arbeiten von Kollektiven wie dem Hi Red Center, welches die Fotografie und den Film ab 1964 als Modus sozialer Kritik in Performances einsetzte. Wieder andere, zum Beispiel Nakahira, Araki und Kōji Enokura, zeigten die Arbeit in der Dunkelkammer und weitere Prozesse der fotografischen Reproduktion als aktive Bestandteile einer performativen Verwandlung. In Jirō Takamatsus Fotografien von Fotografien treten die beinahe plastischen Aspekte des Mediums reflexiv hervor. Die Fotografie wird sowohl als Provokation wie auch als Performance verstanden – als eine philosophische und materielle Auseinander- setzung mit der Bedeutung fotochemischer Reproduktionsprozesse, wie sie für die Konzeptkunst der 1970er Jahre typisch war.
„Provoke: Zwischen Protest und Performance – Fotografie in Japan 1960–1975“ wurde vom Fotomuseum in Zusammenarbeit mit der Albertina, LE BAL und The Art Institute of Chicago kuratiert. Zur Ausstellung erscheint bei Steidl ein reich bebilderter, 680-seitiger Katalog.
Bild oben: Nobuyoshi Araki, Ohne Titel, 1973 copyright Nobuyoshi Araki / The Art Institute of Chicago Bild rechts: Shōmei Tōmatsu, Chi to bara (Blut und Rose), 1969 copyright Shōmei Tōmatsu estate / Galerie Prika Pasquer