Roland Barthes unterschied im Jahr 1979 in seiner Schrift „Die helle Kammer“ zwei Umgangsweisen mit der Fotografie – ihre Zähmung durch ästhetische Kategorien wie Autorschaft, Oeuvre und Genre oder das Zulassen ihrer ungebändigten Wirkung, die in dem „Erwachen der unbeugsamen Realität“ in der Fotografie begründet liege.
Mit den Jahren um 1979 verbindet sich die Zeit umfassender gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen, die das Dokumentarische zu einer künstlerisch wichtigen Haltung machte. Der Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet in seiner „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts: Das Zeitalter der Extreme“ die Jahre nach 1975 als Krisenjahrzehnte: Stellvertreterkriege und Sicherung von Einflusssphären durch die USA und die Sowjetunion in Lateinamerika und vielen afrikanischen Ländern; die islamische Revolution im Iran; die beginnende Destabilisierung der Sowjetunion ab 1980, während sich China zu der dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt entwickelte. Die Weltbankpolitik führte zur Schuldenkrise der sogenannten Dritten Welt. Die Macht der transnationalen Wirtschaft wuchs unterstützt durch die Revolution der Transport-, Produktions- und Kommunikationstechnologien, während die territorialen Staaten im gleichen Maße an Einfluss verloren. Die Künstler und Fotografen beobachteten und dokumentierten diesen globalen Wandel über längere Zeiträume in der Regel dort, wo sie lebten. Zum Teil entstanden große Fotokonvolute. Daher steht in der Ausstellung nicht das Einzelbild im Mittelpunkt. Vielmehr ist von 13 Fotografen und Künstlern aus der Sammlung des Museums wie Robert Adams, Joachim Brohm, Ute Klophaus oder Candida Höfer je eine Fotoserie ausgewählt worden, erweitert um Leihgaben von David Goldblatt, Miyako Ishiuchi und Raghubir Singh, die exemplarisch die Sammlung ergänzen. Barthes ging von einem direkten Zugang zum fotografischen Einzelbild aus, der von Erstaunen geprägt ist, von Gefühlen wie Trauer und Empathie. In der Ausstellung sollen die Fotografien hingegen auf die dokumentarische Haltung der Künstler und Fotografen befragt werden. Verbindet sich mit ihr ein ethnografischer Blick, der den Wandel nur verzeichnen möchte, oder ist an sie eine Politik der Sichtbarmachung geknüpft? Die dokumentarische Haltung ist nicht in den Fotografien allein, sondern auch in ihrem Gebrauch zu entdecken. Fünf Fragen werden daher in der Ausstellung an jede Fotoserie gerichtet: Wer hat die Aufnahmen gemacht, wann und wo, in wessen Auftrag, an wen sind sie adressiert, wo und wie wurden sie erstmals veröffentlicht? Und welche Möglichkeiten der Annäherung an Fotografie können in der Gegenwart bestimmt werden?
Foto: Miyako Ishiuchi, Apartment #45, 1977-78, Courtesy Miyako Ishiuchi und The Third Gallery Aya, Edobori, Nishi-ku, Osaka