Der Titel der Ausstellung „Die Zukunft fotografieren“ klingt zunächst paradox. Für gewöhnlich ist die Fotografie immer mit der Gegenwart oder der Vergangenheit verknüpft. Mehr als jedes andere Medium thematisiert sie das Verrinnen von Zeit. Fünf deutsche und fünf russische Fotografinnen und Fotografen unternehmen das Experiment, in die andere Richtung zu schauen. Die Künstler konstruieren Bilder am Computer oder fotografieren gebaute Modelle, um utopische und dystopische Orte und Landschaften zu schaffen. Oder sie fotografieren die Gegenwart, die auf die Zukunft verweist, und loten so das utopische Potential der zeitgenössischen Fotografie aus. Zu sehen sind eigens für das Projekt entwickelte Arbeiten von Olga Chernysheva, Vladislav Efimov, Sofia Gavrilova, Beate Gütschow, Yakov Kazhdan, Anton Kuryshev, Eva Leitolf, Sascha Pohflepp und Chris Woebken, Ricarda Roggan und Jens Sundheim. Die Ausstellung umfasst ein breites Spektrum von Sujets und zeigt zugleich die Bandbreite zeitgenössischer fotografischer Arbeitsweisen. Die Werke reichen von analogen bis zu digital simulierten Positionen, von dokumentarischen bis zu performativen und konstruierenden Herangehensweisen. Dennoch verbinden die Arbeiten wiederkehrende Themen: Sowohl die jungen als auch die etablierten Fotografen schauen auf die nächsten Generationen, auf den Menschen als Mitglied der Gesellschaft und stellen Fragen an die Zukunft. Sie beschäftigen sich mit Architektur und ihrer Bedeutung als Gesellschaftsmodell sowie Technologie und den damit verbundenen Zukunftsversprechen.
Im täglichen Leben umgeben uns überall „Fotografien der Zukunft“. Die vielleicht einflussreichsten Bilder der heutigen visuellen Kultur – Werbe- und Modefotografien – stellen attraktive Versprechen einer glücklichen Zukunft zur Schau, die – wie sie suggerieren – sofort nach dem Kauf der einen oder anderen Ware erreichbar ist. Die Arbeiten der Ausstellung positionieren sich kritisch zu den Werbefotografien ebenso wie zu den gescheiterten Utopien der Moderne. Heute sind nicht mehr die Künstler die Visionäre und Ingenieure der utopischen Entwürfe wie noch zur Zeit der russischen Avantgarde. Der Glaube, mit Hilfe der Technologie eine bessere Zukunft zu generieren, lebt jenseits der Kunst fort. Die Politik selbst agiert als Visionär und Bauherr der Zukunft. Die Kunst ist sich ihrer Verantwortung für die Zukunft dennoch bewusst. Die Künstlerinnen und Künstler sind jedoch nicht mehr die „Helden der Avantgarde“, stattdessen nehmen sie häufig die Position des Kritikers ein. Wenn sich die Kunst eher pessimistisch der Zukunft gegenüber positioniert, so ist dies Reaktion auf die optimistischen bunten Bilder der Werbewelt ebenso wie auf die Zukunftsversprechen der Politik.
Anton Kuryshev beobachtet zum Beispiel wartende Jugendliche in einer Übergangszone zwischen Bahnhof und Einkaufszentrum. Ihre Zukunft erscheint ebenso ungewiss wie die der Heranwachsenden, deren Schlafräume Eva Leitolf in einer Auffangeinrichtung für jugendliche Asylanten fotografiert. Eine Reihe von Arbeiten thematisiert die Befindlichkeiten von Menschen als Teil der Gesellschaft. Olga Chernysheva fotografiert die Angestellten einer russischen Bank. Beate Gütschow schließlich verwebt in ihren, im Studio inszenierten Stillleben einen Kommentar auf die restriktive Politik des russischen Präsidenten Vladimir Putin gegenüber Homosexuellen. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der Utopie in der Architektur, andere mit Erfindungen und Zukunftstechnologien.
Foto: Das neue Moskau, 2012, © Sofia Gavrilova