ProfiFoto im Gespräch mit Thomas Güttler, Geschäftsführer von Rollei, über die Slow-Photography-Bewegung und den kreativen Moment vor dem Druck auf den Auslöser …
ProfiFoto: Wie sehen Sie den aktuellen Status, den Stellenwert der Fotografie?
Thomas Güttler: Fotografie ist ein Alltagsphänomen geworden. War es ursprünglich nur für einige Auserwählte, die sich die teuren Fotoapparate samt Ausrüstung leisten konnten, führt heutzutage sozusagen fast jedermann mit seinem Smartphone eine sehr leistungsfähige Kamera mit sich. Entsprechend hat sich auch der Prozess des Fotografierens dramatisch gewandelt und ist zum Spiegel der Zeit geworden: Alles ist rastlos, schnell, und wenig bewusst. Dies sieht man an jeder Straßenecke.
Das Selbstporträt beziehungsweise Selfie dokumentiert die gestiegene Lust, sich selbst zu inszenieren. Aber auch die Familie wird in allen Lebenslagen zum Hauptdarsteller ganzer Fotobücher. Und Reisen werden möglichst umfangreich dokumentiert: vom Frühstück im Hotel bis hin zum Gullideckel mit besonderem Aufdruck. Zudem bringt der schnelle Blick auf das Kamera-Display auch gleich das Ergebnis: passt und weiter geht es.
Also alles immer schneller, immer mehr?
Schnelligkeit ist auch in der Fotografie zum bestimmenden Taktgeber geworden – ähnlich des Trends zum Fast Food ist Fast Photography eine Erscheinung unserer Zeit: schnell konsumierbare Bildergebnisse und der nicht besonders nachhaltige Umgang mit Bildern. Immer weniger Bilder werden entwickelt oder finden den Weg in Alben. Geradezu grotesk wirkt daher die Befürchtung von Chronisten, dass trotz der Bilder- und Datenflut unser Jahrhundert auch eine Epoche sein wird, von der wenige Bilddokumente erhalten bleiben werden. Entwicklungen im Bereich der Digitalkameras und der Smartphone-Fotografie sind die Treiber hinter der explosionsartig zunehmenden Menge an Bildern – doch in all der hektisch zusammengetragenen Masse geht die Klasse oft unter.
Moderne digitale Kameras machen es einem aber auch sehr leicht. Automatik-Programm eingestellt und los geht’s. Man muss kaum noch auf das Display schauen – irgendetwas Brauchbares wird hinterher schon dabei sein. Und notfalls tut die Bildbearbeitung ihr Übriges. Was bei dieser Herangehensweise verloren geht, ist die Auseinandersetzung mit den Gebäuden, der Landschaft, den Menschen oder den Situationen, die im Foto festgehalten werden sollen: Das Innehalten und die Überlegung – das Bewusstsein für den einen speziellen Moment.
Aber wie schaffe ich ein Bildergebnis, das bereits vor dem Druck auf den Auslöser in meinem Kopf entstanden ist? Wie setze ich die technischen Möglichkeiten meiner Kamera und des Zubehörs ein, um an meine Vorstellungen heranzukommen?
Ganz nach Simon & Garfunkles Song „Slow down you move too fast“ ist die Lösung gar nicht so schwer: Sich Zeit nehmen, genau hinsehen und Überlegungen – ja ein strategisches Vorgehen – entwickeln: Denn das optimale Bildergebnis sollte möglichst ohne viele Versuche oder stundenlange Nachbearbeitung zustande kommen. Das ist aber nur durch starke Entschleunigung beim Fotografieren und durch die Bewusstmachung des Moments und der jeweiligen Situation möglich. Oder in anderen Worten, durch Slow Photography!
Also back to the roots und die alte Rolleiflex wieder hervorholen?
Slow Photography ist ganz nah an der ursprünglichen Motivation des Fotografierens: dem Festhalten von einzigartigen und wertvollen Momenten, die wie im Flug an einem vorbeiziehen. Wir erstellen mit jedem Foto ein Zeit- oder ein Zustandsdokument. Das, was übrig bleibt, sind die bemerkenswertesten Eindrücke, Bilder, Szenerien, die auch nach Jahren und Jahrzehnten noch ihren Zauber, Ausdrucksstärke oder Hintergründigkeit behalten. Bilder sind wie prägende Erinnerungen, die nicht verblassen. Dies sieht man in Retrospektiven großer
Fotografen genauso wie in der Schuhkarton-Sammlung aus vergangenen Zeiten. Bilder, die bewusst komponiert wurden, in die Zeit und Planung investiert wurden, stechen heraus aus dem täglichen Einerlei der Banalitäten. Und sie sind eine Befreiung aus dem zum Scheitern verurteilten Vorhaben, alles lückenlos dokumentieren zu müssen. Weniger ist oft mehr, da mehr Zeit bleibt, genauer hinzusehen und die Situation bewusster wahrzunehmen.
Und nimmt man sich diese Zeit, beginnt automatisch auch eine ganz spannende und faszinierende Suche: die Suche nach der Schönheit und nach dem perfekten Moment. Und da Schönheit bekanntlich immer im Auge des Betrachters liegt, sind die Möglichkeiten sie darzustellen nahezu unendlich. Fotos sind somit nicht nur Dokument, sondern auch Ausdruck von Gefühl und Auslöser von Emotion. Sie werden Gegenstand von Interpretation und Diskussion aller Betrachter. Ob man das mit Opas alter Rolleiflex umsetzt oder mit dem neuesten Spiegelreflexmodell spielt dabei keine Rolle.
Der Fotograf ist also immer noch wichtiger, als die Fototechnik?!?
Slow Photography, oder die Umkehrung des Herangehens an die Fotografie – weg vom danach Optimieren, hin zum vorher Konzeptionieren – fokussiert sich ganz gezielt auf die emotionale Komponente. Mit der Konzeption des Bildes möchte der Fotograf ein emotionales Ergebnis erzielen – und den Betrachter berühren. Er möchte keinen belanglosen Schnappschuss im Vorbeigehen machen, sondern ein bedeutungsgeladenes Bild arrangieren, das einen ganz speziellen Blickwinkel auf einen einzigartigen Moment preisgibt. Das bedeutet nicht, dass man nicht auch unter hunderten schnell geschossener Bilder ein gutes Bildergebnis finden könnte, das Betrachter zu emotionalen Reaktionen animiert. Doch was fehlt ist die Bildabsicht, die bewusste Auseinandersetzung mit dem Fotomotiv – schlicht der künstlerische oder konzeptionelle Moment, der Weg zum Ergebnis.
Und Sie sind überzeugt, dass entschleunigtes Fotografieren keine Eintagsfliege ist?
Dass Slow Photography keine Spinnerei von Nostalgikern ist, zeigen aktuell einige Trends in der Fotografie. Der Markt der Sofortbildkameras boomt und viele junge Menschen treffen sehr bewusst Entscheidungen, welches Bild den nicht besonders kostengünstigen Film dieser Kameragattung wert ist. Auch findet die klassische Analogfotografie wieder vermehrt Anhänger. Es sind oft Menschen, die mit Analogkameras aufgewachsen sind und nach dem Wechsel in die digitale Fotowelt einfach den konzeptionellen Prozess vermissen. Aber auch jüngere Fotografen, die im Schrank der Eltern und Großeltern die analoge Fotoausrüstung finden oder die vermehrt weg möchten von der Rastlosigkeit und Bedeutungslosigkeit der Smartphone-Fotografie, unterstützen diese Entwicklung. Zudem investieren mehr und mehr Fotografen in hochwertiges Fotozubehör wie Stative, Fotofilter oder Blitzgeräte, deren Gebrauch das Fotografieren nicht nur entschleunigt, sondern automatisch auch bedingt, sich mit dem Fotomotiv intensiver zu beschäftigen.
Denn Fotografie kann Ergebnisse liefern, welche zu dauerhaften Leuchtturm-Erinnerungen werden und nicht in der gegenwärtigen Fotoflut verblassen und weggeschwemmt werden.
Slow Photography
in 5 Phasen
Um den Kern der bewussten Fotografie zu treffen, empfiehlt Thomas Güttler fünf Phasen, die den Weg dorthin ebnen:
Phase 1: Bewusste Auswahl des Bildmotivs – Auseinandersetzung mit der Szenerie. Konzipierung einer Bildaussage.
Phase 2: Auswahl des Bildausschnitts – Wie soll das Motiv in Szene gesetzt werden? Bei welchem Licht soll das Motiv fotografiert werden? Gibt es Führungslinien? Goldene Schnittpunkte? Was soll in den Vorder- was in den Hintergrund? Welche Perspektive wird gewählt, um die Bildaussage zu unterstützen? Etc.
Phase 3: Überlegung, welches Foto-Zubehör notwendig ist, um die Vorstellungen umzusetzen. Welches Stativ braucht man? Welche Filter (Polfilter, Verlaufsfilter, ND-Filter, UV-Filter) sind unabdingbar? Ist ein Blitz sinnvoll? Erfolgt die Betätigung des Auslösers direkt an der Kamera oder über einen Fernauslöser?
Phase 4: Überlegung, wie das gewünschte Bildergebnis mit den technischen Möglichkeiten der Kamera erzielt werden kann. Bewusste Auswahl der Blendenöffnung, der Belichtungszeit, und des ISO-Werts. Wichtig ist hier, den manuellen Modus einer Digitalkamera oder als Fotopurist sogar eine analoge Kamera zu wählen. Im Sinne der bewussten Fotografie ist eine vorherige Auseinandersetzung mit der jeweiligen Kamera unabdingbar.
Phase 5: Der Druck auf den Auslöser. Ab diesem Zeitpunkt sollte die Hauptarbeit für das Endergebnis des jeweiligen Fotos gemacht sein.
Über Rollei
Die Geschichte von Rollei begann 1920 in einer Braunschweiger Werkstatt. Mit der zweiäugigen Rolleiflex, begründete Rollei in kurzer Zeit seinen Weltruf als Präzisionshersteller, wurde zur Kultmarke und prägte in den 50er und 60er Jahren einen eigenen Fotostil. Seit 2007 steht Rollei für hochwertiges Foto-Zubehör wie professionelle Filter-Systeme, Blitzgeräte und Fotorucksäcke sowie Digitalkameras, Actioncams, digitale Bilderrahmen, Dia-filmscanner und Selfie-Zubehör. Im Stativ-Markt hat Rollei sich als Marktführer etabliert und stellte im letzten Jahr mit dem Rollei C5i das meistverkaufte Stativ Deutschlands.