Alle Jahre wieder. Hendrik Neubauer hat seinen Büchertisch sortiert. Er empfiehlt Ungefragt „Romane, die sich das Thema Fotografie auf besondere Art zueigen gemacht haben und die im Laufe des gerade vergehenden Jahres erschienen sind. Der große historische Schinken? Ja, bitte doch. Oder doch lieber der kleine, feine Roman? Sehr gerne.“
Mein Lesejahr fotografischer Couleur startete mit einem ganz dicken Klotz. „4321“ von Paul Auster. Was hat dieses Opus magnum denn mit Fotografie zu tun? Moment mal, denn der Roman beginnt mit einem alten jüdischen Witz, den Fremdenführer angeblich auf Ellis Island gerne erzählen. Ein jüdischer Russe bekommt auf der Überfahrt den Tipp, er solle sich doch lieber Rockefeller nennen, sein unaussprechlicher Name werde doch sonst nur von dem Immigrationsbeamten verballhornt. Der Mann tritt an den Schalter und stammelt: „Ich hob forgessen!“ Der Beamte notiert: Ichabold Ferguson. Wir gleiten mit einer knappen Einführung in das Leben dieses Einwanderers. Und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, wird er geboren. Archibald Isaac Ferguson. Nun kann es losgehen. Sein Vater Stanley betreibt ein Möbelgeschäft, seine Mutter Rose arbeitet als Assistentin in einem Fotoladen und -studio. Was folgt, sind vier verschiedene Varianten von Archies Lebensgeschichte. Alle vier haben denselben Startpunkt, dieselben Eltern, denselben Körper, dieselben genetischen Erbanlagen. Aber jetzt beginnt jeweils eine wilde Fahrt durch die Geschichte der USA nach 1945. Wie erwähnt, Archies arbeitet Mutter in einem Fotoladen. Auch sie erlebt vier ganz unterschiedliche Karrieren . Was gleich bleibt, ist die Figur der Mutter (immer Fotografin), die von der Archie sehr geliebt wird und die bis zum Ende der High School Zeit seine Bezugsfigur, die wichtigste Person in seinem Leben ist. An dieser Stelle noch soviel: Es ein Buch über Medien und nicht nur die Literatur und den amerikanischen Kanon, es ist eine Liebeserklärung an Paris, es zerfleddert den amerikanischen Lifestyle, es pointiert die Geschichte der USA von 1950er- bis Anfang der 1970er-Jahre. Ich könnte es Anfang des Jahres glatt noch einmal lesen. Ich bin mir sicher, jede Menge neuer Wendungen und Drehungen in Personal und Stoff zu entdecken. Groß. Ganz groß.
Was soll man davon halten, wenn der Kiappentext einen „kleinen, feinen Roman“ verspricht. Ich las das und dann wurden meine Finger erst einmal spitz. Ich rede Jean-Phiilippe Blondels „Die Liebeserklärung“. Er handelt von zwei französischen Videografen auf dem Land. Wie überall in Europa am Anfang des 21. Jahrhundert flüchten nicht alle Menschen in die Stadt, viele bleiben in der Provinz und leben in prekären Verhältnissen. Onkel und Patensohn begleiten mit ihren Kameras Hochzeitspaare auf ihren Feiern. Der Roman eröffnet mit einem Kapitel über die überaus durchschnittliche Aline. Sie ist klein, mittelprächtig gebaut und hat Haare auf den Zähnen. Sie bittet den jungen Kameramann, Corentin, abseits vom Trubel ihre Liebeserklärung für ihren künftigen Mann zu filmen. Sprachlich unverkrampft blättert Blondel die unprätentiöse Gefühlswelt dieser jungen Dame auf. Das bezaubert nicht nur den jungen Mann mit der Kamera, sondern auch die Leser. Denn Corentin sammelt fortan Offenbarungen von Menschen vor seinem Objektiv.
Kameraschwenk. Zur Abwechslung wieder ein zeilenmächtiges, zeitgeschichtliches Epos. „Ab heute heisse ich Margo“ von Cora Stephan. Zwei Frauen, zwei Töchter, zwei Kriege, zwei Deutschlands – und ein gemeinsames Schicksal. Der historische Roman gliedert sich in drei Teile. Erster Teil. Die Wege von Margo und Helene kreuzen sich in Stendal in den 1930er-Jahren. Margo ist Lehrling in der Buchhaltung, Helene Fotografin. Ihre ersten beruflichen Schritte macht sie im Spanischen Bürgerkrieg als Foto-Reporterin, dort gerät sie jedoch zwischen die Linien. Ein deutscher Diplomat hilft ihr nicht nur aus der spanischen Bürgerkriegshölle zu entkommen, sondern bringt sie auch in der Provinz bei einem Porträt- und Hochzeitsfotografen unter. Der Diplomat weiß um ihre jüdische Herkunft, betrachtet aber Stendal zunächst als sicher. Helene ist eine „Seherin“ und versteht das auf die Platte zu bannen, weil sie auch Bider gestalten. Nur dass sie dabei langsam aber sicher vor die Hunde geht, weil sie mehr und mehr ins Visier der Nationalsozialisten gerät, bis sie dann als Lesbierin abgestempelt in einem Lager landet. Den ersten Teil habe ich fast schon fiebernd gelesen. Hier versteht es Stephan zwischen Protagonisten hin- und herzuwechseln und dabei die Perversion des nationalsozialistischen Systems und den Leidensdruck der Menschen auf die Spitze zu treiben. Im zweiten Teil „1945 bis 1989: „Deutschland West, Deutschland Ost“ steigert sich das Buch langsam in eine Totalitarismuskritik, die teilweise aberwitzig und widersinng daherkommt, für die Stephan nach Jahrzehnte nach dem Mauerfall aber wohl einiges an Beifall erwartete. Wen verwundert es, die Publizistin Stephan zählt zum konservativen Netzwerk „Achse des Guten“. Der dritte Teil klappt die vorher aufgeschlagenen Kapitel einfach nur zu, eine eigenständige Nachwende-Erzählung hört sich anders an. Ich bleibe aber dabei, Teil 1 liest sich außerordentlich gut.
Den folgenden Roman über Sterbegleitung habe ich nur kurz angelesen. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ von Susann Pásztor. Karla hat Krebs, die letzte Chemo hat sie abgebrochen. Karla hat ein bewegtes Leben geführt. Sie ist ein Deadhead, sprich Fan der Band Grateful Dead, war viel in Amerika unterwegs, hat lange auf Ibiza gelebt und ist kürzlich wieder zurück nach Deutschland gekommen; sie war bis zum Ausbruch der Krankheit wohl kein Kind von Traurigkeit. Die vielen Konzerte ihrer Lieblinge, die sich besucht hat, hat der treue Fan in Tausenden von Fotos dokumentiert. Ich habe Deadheads irgendwie immer bewundert. Für ihren Stoizismus. Nachvollziehen konnte ich das Fantum nicht, diese Schlafwagenmusik hat mich nie berührt. Vielleicht schafft es dieser Roman. Karla und Jerry Garcia, das hat doch Charme?!
Auch den nächsten Roman lege ich auf den Stapel der noch zu lesenden Bücher. „Die Konsequenzen“ von Niña Weijers. Die Protagonistin reüssiert als Star in der niederländischen Kunstszene und stellt sich dabei immer auch infrage. Der Fotograf, mit dem sie eine lose sexuelle Beziehung verbindet, kommt ihr als Partner bei ihrem neuen Projekt gerade recht. Doch die Konsequenzen lassen sich nicht absehen. Und die Frage ist: Wer manipuliert wen? Das klingt nach einer Herausforderung mit fotografischem Bezug.
Wo gerade dabei sind. Vor gar nicht langer Zeit habe ich hier vier Fotobände mit einer gehörigen Drift ins Epische vorgestellt. „Atlas der Angst“, „Preisen will ich die großen Männer“, „Minamata“ und „Buzzing at the Sill“. Inwieweit man bei dieser Bücher von Literatur sprechen kann, das lässt sich hier nachlesen.
So weit. 2018 kann kommen. Vorher bitte ich aber die Feiertage und das sogenannte Dazwischen, sich gehörig in die Länge zu ziehen. Es gibt noch jede Menge zu lesen.
Romane (s.o.)
4 3 2 1. Paul Auster. 2017. Roman. 1264 Seiten. Rowohlt Verlag. 29,95 €
https://www.rowohlt.de/hardcover/paul-auster-4-3-2-1.html
Die Liebeserklärung. Jean-Phiilippe Blondel. 2017. Roman. 160 Seiten. Deuticke. 18,00 €
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-liebeserklaerung/978-3-552-06333-4/
Ab heute heisse ich Margo. Cora Stephan. Taschenausgabe 2017. Roman. 640 Seiten. kiwi. 10,95 €
https://www.kiwi-verlag.de/buch/ab-heute-heisse-ich-margo/978-3-462-31539-4/
Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster. Susann Pásztor. 2017. Roman. 288 Seiten. kiwi. 20,00 €
https://www.kiwi-verlag.de/buch/und-dann-steht-einer-auf-und-oeffnet-das-fenster/978-3-462-04870-4/
Die Konsequenzen. Niña Weijers. 2016. Roman. 359 Seiten. Suhrkamp Verlag. 22,00 €
http://www.suhrkamp.de/buecher/die_konsequenzen-nina_weijers_42558.html
Fotobücher
(besprochen in der Kolumne „Drift ins Epische“)
http://www.profifoto.de/notizen/2017/10/10/die-drift-ins-epische/
Dirk Gieselmann, Armin Smailovic. Atlas der Angst. Eichborn Verlag, Köln. 2017. 24,00 €
https://www.luebbe.de/eichborn/buecher/politik-und-gesellschaft/atlas-der-angst/id_6149016
Walker Evans, James Agee. Preisen will ich die großen Männer. Schirmer Verlag, München, 1989. Antiquarisch,
Eugene Smith, Aileen M. Smith. Minamata. Words and Photographs. Holt, Rinehart and Winston, New York, 1975. Antiquarisch.
Peter van Agtmael. Buzzing at the Sill. Kehrer Verlag, Heidelberg. 2016. 39,90 €
https://www.kehrerverlag.com/de/peter-van-agtmael-buzzing-at-the-sill-978-3-86828-736-3
Foto: © Michael Kneffel.