Nach dem gelungenen Jahresauftakt mit der Reihe „In Deutschland: reloaded (I)“, die von Klaus Honnef kuratiert wurde, folgt die von Wilhelm Schürmann kuratierte Ausstellung „In Deutschland: reloaded (II)“, die in der Berliner Kicken Galerie bis zum 2. September 2016 zu sehen ist.
Der Blick von Wilehlm Schürmanns richtet sich auf dokumentarische Sichtweisen in West- und Ostdeutschland seit den späten 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Dazu gehören die Künstler Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Jochem Hendricks, Karl-Ludwig Lange, Thomas Leuner, Rudi Meisel, Simone Nieweg, Gabriele und Helmut Nothhelfer, Helga Paris, Peter Piller, Arne Schmitt, Petra Wunderlich und Ulrich Wüst.
Während Honnef eine eng an seiner ursprünglichen Bonner Ausstellung 1979 im Rheinischen Landesmuseum orientierte Bildauswahl zeigte, erweitert sein damaliger Co-Kurator Schürmann im Rückblick das Spektrum. Ausgangsfrage für ihn ist die Neubewertung der Situation damals, vor gut 35 Jahren, aus heutiger Sicht: Wie kann das historische Projekt heute gegenwartstauglich gemacht werden? Mit beiden Präsentationsweisen – Honnefs Retrospektive und Schürmanns Revision – ergibt sich ein umfassendes Bild einer in Deutschland künstlerischen Positionsbestimmung.
Basis von Schürmanns Revision ist die Archäologie des Alltags in verschiedenen Facetten: die Darstellung von Nutzlandschaften wie sie Nieweg und Wunderlich, die um 1979 noch unbekannten DDR-Fotografen Paris, Wüst) oder verschiedene Bilder des Übergangs wie die Arbeiten von Lange, Leuner, Fischer, Bergemann, Meisel, bei denen die politische Wende und Berlin als neues Zentrum in den Blick gerückt sind, sie zeigen. Mit heutigem Medien- und Geschichtsbewusstsein verarbeiten Künstler die Bildwelt der 1970er Jahre wie Hendricks, Piller) oder sezieren den Status quo der Jetzt-Zeit präzise und nüchtern wie Schmitt. Simone Nieweg und Petra Wunderlich betreiben ihre Archäologie des Alltags in den Grenzbereichen von Natur und Kultur. In Ackerland (Nieweg) und Steinbrüchen (Wunderlich) finden sie ihre Bilder, die von Schürmann als Nutzlandschaften ausgestellt werden.
Ein besonderes Interesse des Kurators gilt der ihm damals noch völlig unbekannten DDR-Fotografie. Helga Paris und Ulrich Wüst verkörpern besonders den sachlichen und doch teilnehmenden Blick auf Menschen, Häuser, Räume, Straßen, Ereignisse. Helga Paris vermittelt dies in ihrer Serie Halle. Häuser und Gesichter (1983-85), Wüst nennt seine Aufzeichnungen aus Ostberlin und anderen Orten schlicht Notizen (1984-85).
In Schürmanns Bestandsaufnahme aus heutiger Sicht tauchen immer wieder Bilder des Übergangs auf. Die deutsche Wende und Wiedervereinigung, die Situation davor und danach, scheinen auf in prägnanten Einzelmotiven von Thomas Leuner, (SO 36, 1985) Arno Fischer (Ostberlin, Silvester 1989-90) und Karl-Ludwig Lange (Leipziger Platz, 2000). Sibylle Bergemanns Dokumentation der Aufbewahrung des Marx-Engels- Denkmals in einem Gewächshaus wirkt heute wie aus der Zeit gefallen.
Um den zweiten Blick, d.h., eine veränderte Perspektive auf nur scheinbar Bekanntes, geht es bei Jochem Hendricks und Peter Piller. Beide verarbeiten anonyme Bilder unterschiedlicher Herkunft aus den 1970er Jahren. Hendricks’ eröffnet einen Rückblick auf ein „Deutschland im Herbst“ mit den Bildern eines zufällig gefundenen Polizeifotoarchivs, das er als Bildquelle der anderen Seite – des vermeintlich gefährlichen Gegenübers heranzieht.
Piller kauft das Firmenarchiv der Luftbildfotos von Einfamilienhäusern, das er „von oben schöner“ betitelt und mit dem er uns mit Hilfe der „Entfernung der Fotografie“ Strukturen eines normierten Lebens vor Augen führt.
Arne Schmitt zeigt mit dem Bonner Stadthaus (2011) im nüchternem Gestus die Stadtarchitektur der Nachkriegszeit. Sein visueller Essay thematisiert das oft fehlgeschlagene Bemühen der Politik um städtebauliche Repräsentation (im Bonner Beispiel den Wunsch nach einer baulichen „Stadtkrone“) – den Moment, „(w)enn Gesinnung Form wird“
Im Lebenswerk von Gabriele und Helmut Nothhelfer verdichtet sich ihr Menschenbild im Verhältnis von Individuum und Menge, zugleich zeitlos und zeitgleich, über Jahrzehnte hinweg. Rudi Meisel visualisiert als reisender Journalist im eigenen Auftrag West- und Ostdeutschland in den 1970 und -80er Jahren in charakteristischen Alltagsszenen und thematisiert damit die gesamtdeutsche Gesellschaft vor der Wende. Wilhelm Schürmann zeigt in seinen Bildbeispielen aus ca. 40 Jahren im eigenen Auftrag entstandene oder genutzte Aufnahmen aus konträren politischen Systemen, die sich immer wieder den offiziellen Blickwinkeln entzogen haben.
Bild oben: Rudi Meisel (1949) Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Bösleben, DDR, 1980 gelatin silver print © Rudi Meisel / Courtesy Kicken Berlin
Bild rechts: Helga Paris (1938) ‚Ohne Titel‘, aus der Serie ‚Halle. Häuser und Gesichter‘, 1983 – 1985 gelatin silver print © Helga Paris / Courtesy Kicken Berlin
Bild links: Arne Schmitt (1984) ‘Ohne Titel‘, aus der Serie ‘Stadthaus‘, 2011Pigmentdruck © Arne Schmitt / VG Bild-Kunst, Bonn 2016