Kollegen verpfeifen? Das macht man nicht – auch nicht als Journalistin oder Journalist. Vor allem wenn der Kollege so begabt und nett wie Claas Relotius zu sein scheint. Knapp 60 Artikel hat der „nette Kollege“ für den „Spiegel“ und „Spiegel Online“ gefälscht – Dialoge, Szenen und Biografien waren zum Teil frei erfunden. Vorsätzlich und mit „hoher krimineller Energie“ sei der mit Journalistenpreisen ausgezeichnete Reporter vorgegangen. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die kürzlich ihren Abschlussbericht vorlegte. Hendrik Neubauer zieht „Ungefragt“ seine Schlüsse.
Juan Moreno stand für eine längere Zeit als „Whistleblower“ da. Der „Spiegel“-Mitarbeiter musste erfahren, dass der Glaube an die Wahrheit sehr einsam machen kann. Was war passiert? Aufgeflogen ist Relotius, weil sein Kollege Moreno, der Co-Autor der „Jaegers Grenze“-Story, anhand von Fotos Verdacht geschöpft hatte. Die Story erzählt von einer Bürgerwehr in den USA und wurde im „Spiegel“ mit Aufnahmen des Fotografen Jonny Milano illustriert. Die Foto-Reportage war bereits 2016 in der New York Times erschienen. Im Prinzip ist die Serie damit eine „Olle Kamelle“. Aber die Szene ist unzugänglich und nicht so leicht zu knacken, also wurde der „frische“ Text mit Milanos Archivbildern illustriert. Der Artikel erschien im November 2018: „Bürgerwehr gegen Flüchtlinge. Jaegers Grenze. Die Honduranerin Aleyda marschiert durch Mexiko, um in die USA zu fliehen. Der Amerikaner Jaeger wartet mit bewaffneten Bürgern, um das zu verhindern. Für beide gibt es kein Zurück. Von Juan Moreno, Claas Relotius.“ Wer sich für Journalismus interessiert, der will diese Geschichte lesen. Selbst diese wenige Worte lösen einen Sog aus. Und das Aufmacher-Foto leistet sein Übriges. Vier schwerbewaffnete uniformierte Bürger rüsten sich zum Dienst, im Vordergrund hockt ein bärtiger Mann, um ihn herum stehen Männer, die den Blick in die Ferne schweifen lassen, und im Hintergrund steht ein weißer Pick-up bereit. Gleich geht die Jagd auf Menschen los, die illegal die us-amerikanische Grenze übertreten wollen.
Ein Stoff, aus dem gute Geschichten sind. Mit Zutaten, die passen. Da ist es unerheblich, ob die Fotos taufrisch sind oder nicht?! Nur der bärtige Mann, der sich in der „Spiegel“-Geschichte Jaeger nannte, wurde in der „New York Times“ mit seinem vollen Namen genannt: Chris Maloof. Und als Co-Autor Juan Moreno diesen Mann ausfindig macht und befragt, sagt dieser, einen „Spiegel“-Reporter namens Claas Relotius habe er nie gesehen. Was für ein Bluff? Dabei fragte sich wohl jeder, der die Reportage gelesen hat: Wie hat Relotius das nun wieder hinbekommen. So jung, so begabt, so ausgefuchst. Wie hat er es bloß geschafft, sich dieser Truppe anzuschließen? Wer gegen einen Menschen wie Relotius anstinkt, gilt schnell als Nestbeschmutzer. So geschah es mit Moreno.
Der „Whistleblower“ ist jüngst mit einem einem Preis ausgezeichnet worden. Die Journalisten-Organisation „Netzwerk Recherche“ hat Juan Moreno die Auszeichnung „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ verliehen. Er hat seine berufliche Existenz aufs Spiel gesetzt, einen Kollegen angeschwärzt und letztendlich einem Wortjoungleur, der sich fälschlicherweise als Journalist verstand, das Handwerk gelegt. Relotius ist abserviert. Aber was ist mit den Menschen passiert, die ihn jahrelang protegiert haben? Die Herren Fichtner und Geyer sind nur ins zweite Glied zurückgetreten. Läutet man so einen Wandel ein? Ist der „Spiegel“ vielleicht doch nur eine Behörde, in der keine Köpfe rollen? Der „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann kündigte Ende Mai an, dass es im Ressort Gesellschaft Änderungen geben werde, auflösen werde man die Abteilung nicht. Er sagte im Gespräch mit turi.tv über die nahe Zukunft auch: „Ich erwarte gute Geschichten von den Kollegen, Geschichten, die Bumms haben, die sich gut lesen und die eine hohe Relevanz haben.“ Das klingt doch arg nach dem üblichen Journalistensprech. Demut und eine journalistische Vision? Da wünscht man sich einen anderen Sound. Und vielleicht sollten die Herrschaften in Hamburg mal über ihren Claim nachdenken: „Keine Angst vor der Wahrheit“?
Was können wir aus diesem großen Bluff an der Ericusspitze in der Hamburger-Hafencity lernen? Relotius scheiterte nicht an einer letzten, besonders überdrehten Geschichte. Sondern daran, dass sich Unwahrheiten und Erfindungen in der Teamarbeit viel schlechter verschleiern lassen. Wo sind die Reporter-Teams geblieben, die gemeinsam Reportagen in Wort und Foto erarbeiteten? Zwei Menschen, die sich nicht nur professionell begleiten, sondern sich auch gegenseitig in Extremsituationen sozial unter Kontrolle halten? Das gute alte Foto-Text-Tandem, wo ist es? Was früher ein journalistischer Standard war, fällt heute leider oft dem finanziellen Rotstift in den Redaktionen zum Opfer. Wieso aber dann auf einfaches „Fact-Checking“ wie im Falle Relotius verzichtet wird, das bleibt in Zeiten des Internets und der Globalisierung ein Rätsel. Einfach mal Google fragen? Wenn die Suche eines Protagonisten kein Ergebnis liefert, lohnt sich vielleicht die Nachfrage, welche Belege der Autor für die Existenz dieses Menschen vorlegen kann. Gesprächsprotokolle? Telefonnummer? Keine schlechte Idee. Jedes Fotos lässt sich auf Echtheit prüfen. Satellitenbilder liefern Beweise dafür, ob die eindrücklichen Beschreibungen den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort entsprechen. Ist das Geschäft wirklich so simpel gestrickt? Ist es. Wenn all diese einfachen Regeln eingehalten werden, dann muss nicht der eine Kollege den anderen anschwärzen. Aber wie gut, dass Moreno dem Mann namens Malouf, den Relotius angefeuert von seiner Fabulierlust und Fantasie Jaeger nannte, ein Handyfoto des Lügenboldes unter die Nase gehalten hat. Schon war die Luft raus aus dessen tausendundeinem schönen Wort. Moreno musste nur noch eine von sich selbst eingenommene wie schreckhafte Redaktion von der „Wahrheit“ überzeugen. Eine traurige wie tolle Story.
„Jaegers Grenze“
https://www.spiegel.de/plus/buergerwehr-gegen-fluechtlinge-in-arizona-jaegers-grenze-a-00000000-0002-0001-0000-000160834460
„Spiegel“-Chef Steffen Klusmann über die Konsequenzen aus dem Relotius-Skandal
https://www.youtube.com/watch?time_continue=224&v=cuEwUeNLyS4
Text (C) Hendrik Neubauer. 2019
Foto (C) Lynn Neubauer.