Der entscheidenden Sekunde, in der eine Sturmmöwe auf einem Adler landet, ein Gepard eine Gazelle zu Fall bringt oder ein Pinguin eine Pressekonferenz gibt, widmet der international renommierte Naturfotograf Winfried Wisniewski seinen aktuellen Didaktikband. Seine Tierfotos zeigen zwar „nur“ Augenblicke, erzählen aber mit ihrer großartigen Aussagekraft ganze Geschichten.
Das blaue Wunder
Am 16. Dezember 1994 befinde ich mich in der Weddell-See im Südpolarmeer auf der Rückfahrt von den Kaiserpinguinkolonien bei Atka-Bay. Wir sind auf 55°37‘ südlicher Breite. Gegen 13 Uhr trifft unser Eisbrecher, die »Kapitan Dranitsyn«, zwischen den Süd-Sandwich-Inseln und Südgeorgien auf einen Eisberg. Ich habe in der Arktis und Antarktis schon viele blaue Eisberge gesehen, so »perfekt« in Form und Farbe wie dieser war jedoch nie einer. Und als Tüpfelchen auf dem i trägt er auch noch eine kleine Gruppe von Kehlstreifpinguinen, die ihn als Floß nutzen.
Freundlicherweise lässt der Kapitän den Eisberg einmal umrunden. Immer neue Farbschattierungen und Lichteffekte tauchen auf. Hier eine finstere Grotte, in die das Meerwasser hineinschwappt und langsam wieder herausfließt. Dort eine Halbhöhle, von der Rückseite her lichtdurchflutet. Die Brandung hat bizarre Strukturen ins Eis gezaubert, gläsern durchscheinende Zinnen, schroffe Grate und sanfte Rundungen von zuweilen fast erotischer Ausstrahlung. Und immer wieder Blau – in allen Abstufungen. Ich stehe an der Bugspitze und fotografiere mich geradezu besoffen an dieser unwirklich anmutenden Erscheinung. Der Filmverbrauch steigt ins Unermessliche. Meine Kollegin Cherry Alexander hat schon alle ihre Filme belichtet und leiht sich schnell noch zwei von mir. Dann nimmt der Eisbrecher wieder Fahrt auf. Ich ahne nur, dass ich gerade Fotos geschossen habe, die man nur einmal im Leben machen kann.
Noch während der Eisberg in Sicht ist, spricht Peter Harrison, einer der Expeditionsleiter auf dieser Tour, bereits euphorisch von einem »Siegerbild« beim »BBC Wildlife Photographer of the Year Contest «. Und tatsächlich gewinnt Cherry im Jahr darauf diesen größten Naturfotowettbewerb der Welt mit einem Bild von diesem blauen Eisberg. Zusätzlich zu ihren tollen Bildern hatte sie das Glück, als Frau und als Britin antreten zu können. Ich konnte mich immerhin damit trösten, dass die Gesellschaft Deutscher Tierfotografen mich mit einem Bild vom »blauen Wunder« 1995 zum ersten Mal zum Tierfotografen des Jahres gekürt hat. Auch nicht schlecht.
Welcher war denn nun der richtige Augenblick bei der Begegnung mit diesem Eisberg? Es gab sicher mehrere. Ich habe mich für das
Foto von der Gruppe Kehlstreifpinguine auf dem steilen Eis entschieden. Vorbereiten konnte man hier nichts. Es war reines Glück. Ich musste nur noch halbwegs sinnvolle Ausschnitte wählen und auf den Auslöser drücken … und sehr oft den Film wechseln.
Oft fragen Betrachter des Bildes, warum das Eis eigentlich so blau ist. Die meisten Eisberge sind weiß. Ihr Eis enthält Luft, wodurch nahezu das gesamte auftreffende Licht reflektiert wird. Man spricht dann von einer Totalreflexion. Manche Eisberge sind von intensiv blauer
Farbe. Dann handelt es sich um Eis, das sehr hohem Druck ausgesetzt war. Dabei ist Luft aus dem Eis gepresst worden. Nun werden nicht mehr alle Lichtanteile reflektiert, sondern beispielsweise nur noch die blauen. Solches Eis ist oft sehr alt. Dieser blaue Eisberg kann durchaus zehntausend Jahre oder älter gewesen sein.
Pressekonferenz
Der Kaiserpinguin bewohnt von allen Vogelarten die südlichsten Gebiete der Erde. Mit Ausnahme einer einzigen Kolonie auf dem Festland der antarktischen Halbinsel brütet er ausschließlich auf dem Packeis vor der Küste des antarktischen Festlandes. Bevor der Reiseveranstalter »ZEGRAHM’S EXPEDITIONS« 1993 zum ersten Mal einen Eisbrecher mit Touristen zu den Brutstätten dieser imposanten Vögel entsandte, waren bereits »mehr Menschen im Weltraum als in einer Kaiserpinguinkolonie«! Die Manager dieser Firma mögen übertrieben haben. Doch zu der Zeit gab es wirklich nur ganz wenige Expeditionen zu den tief im Eis der Antarktis liegenden Kolonien der Kaiserpinguine.
Heute operieren viele Kreuzfahrtschiffe im südlichen Polarmeer. Fast alle sind jedoch nicht besonders eistauglich und in ihrem Aktionsradius auf die Inseln der Westantarktis und die Antarktische Halbinsel beschränkt. »Banana belt« wird dieser wärmste Teil der Antarktis von Eingeweihten daher geringschätzig genannt. Wer jedoch zu den Kaiserpinguinen aufs Packeis und damit über die Randbereiche der Antarktis hinaus will, muss schon auf einem Eisbrecher einchecken (oder fliegen). Im Winter 1994 habe ich an einer der ersten Schiffsreisen von ZEGRAHM’S zu den Kaiserpinguinen teilgenommen.
Aus meinem Tagebuch: »4. Dezember 1994. Heute ist mein vierter Tag auf dem russischen Eisbrecher »Kapitan Dranitsyn«. Das Schiff ist mit 90 Reisenden an Bord von Ushuaia in Südargentinien auf dem Weg zu fünf Kaiserpinguin-Kolonien auf dem antarktischen Festeis. Sie liegen südwestlich von Cape Norwegia, ganz in der Nähe der deutschen Antarktis-Station »Georg von Neumayer«. Mit Ausnahme der kleinen Insel »Gosling Island«, wo wir drei Stunden an Land waren, habe ich bisher nur Wasser gesehen. Es ist früh am Tag. Der Himmel ist bedeckt. Auf unserer Route kreuzen wir immer mehr Eisberge. Aus dem Nebel tauchen Eisschollen auf, auf denen Pinguine stehen. Weddell-Robben und manchmal ein Seeleopard äugen verwundert zu uns hoch. Plötzlich fahren wir durch Packeis. Es handelt sich um große Eisplatten, nur durch schmale Rinnen getrennt. Man hört es kaum, wenn das Schiff sie wie Butter durchschneidet. Die Geschwindigkeit ist kaum geringer als im freien Wasser. Ohne unseren Eisbrecher mit seinen 24.000 PS ständen wir hier auf verlorenem Posten.«
Das Packeis hört jetzt nicht mehr auf. Am siebten Tag überqueren wir den südlichen Polarkreis. Zur Feier dieses Ereignisses »parkt« der Kapitän den Eisbrecher auf einer riesigen Eisscholle. Die Reiseleiter arrangieren einen Willkommenstrunk und ein Erinnerungsfoto vor unserer »Kapitan Dranitsyn«. Plötzlich steht ein einsamer Kaiserpinguin vor der versammelten Mannschaft von Reisenden, der erste auf der Tour und für wohl alle Gäste der erste in ihrem Leben.
Alle wenden sich ihm zu, um aus gebührendem Abstand ein Foto zu schießen. Ein einzelner Pinguin in der konturlosen Eiswüste – für mich kein berauschendes Foto. Vielleicht wäre die Situation mit einem extremen Weitwinkel zu lösen, doch die Regeln verbieten die weitere Annäherung an den Vogel. Plötzlich kommt mir die Idee, die Fotografen ins Bild einzubeziehen. Vielleicht habe ich mich unbewusst an ein Foto von einer Pressekonferenz erinnert, bei der ein Bildberichterstatter nicht den Redner, sondern die dicht und gierig vor diesem drängelnde Fotografenmeute aufgenommen hat. Das Foto war am Tag darauf in allen Zeitungen. Natürlich kann man das nur einmal machen. Wer es als Zweiter macht, outet sich als wenig kreativ. Doch in der Tierfotografie hatte es so etwas vorher wohl noch nicht gegeben. Leider war mein Bild weder am nächsten Tag noch nach meiner Rückkehr aus der Antarktis in allen Zeitungen. Immerhin wurde es einige Male gedruckt, im Magazin Focus sogar doppelseitig. Bildunterschrift: »Stellen Sie Ihre Fragen!« Spätestens da wusste ich, dass ich in dieser Situation den richtigen Augenblick erwischt hatte. Richtig war hier nicht das Naheliegende, das alle taten. Stattdessen war es wichtig, die Situation blitzschnell zu erfassen und sich gegen die vordergründig beste Lösung zu entscheiden, den richtigen Ausschnitt festzulegen und sofort abzudrücken – ganz im Sinne von Cartier-Bresson. Dieses Foto war überhaupt nicht planbar, aber es war am Ende auch nicht nur Glück, sondern es waren auch Intuition und Reaktionsschnelligkeit, die zum Erfolg führten.
Am folgenden Morgen endlich erreichen wir das antarktische Packeis bei Atka Bay. Nach zehn Flugminuten mit dem Hubschrauber und einem Fußweg von drei Kilometern übers Eis stand ich mehr als 3.000 Kaiserpinguinen gegenüber. Hier habe ich dann meine Aufnahmen von einzelnen Tieren, von Paaren und Gruppen und der ganzen Kolonie gemacht.
Dieser Beitrag ist in ProfiFoto 4/17 erschienen.
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Tierfotografie – Der richtige Augenblick
von Winfried Wisniewski, mitp Verlag 2017, 1. Auflage 2017, 264 Seiten, Softcover, Format 22 x 22 cm, ISBN 978-3-95845-365-4, 34,99 Euro
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