Urbane Naturfotografie scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Dass dem aber nicht so ist, zeigt das Autorenduo Verena Popp-Hackner und Georg Popp im neuesten Band der Edition ProfiFoto.
Natürlich kann man einfach seine Kamera packen, losmarschieren, durch die Stadt schlendern und fotografieren, was so vor die Linse kommt. Von Zeit zu Zeit ist es sogar genau das, was man tun sollte, um den Spaß an der Fotografie zu erhalten. In unserer gut 20-jährigen Zeit als Berufs-Naturfotografen haben wir jedoch gelernt, dass man seinen Blick, seine Arbeit und seine Zeit fokussieren sollte. Darin liegt der entscheidende Mehrwert zwischen einer kurzzeitig unterhaltsamen Ansammlung netter Bilder und einer dauerhaft faszinierenden, in die Tiefe gehenden fotografischen Arbeit. Einer unserer wenigen wirklich sinnvollen Ratschläge, die wir gerne an ambitionierte Fotografen geben, ist es, seine Arbeit in Form eines Fotoprojektes zu sehen. Ein Projekt mit Anfang und Ende und einer Geschichte/einem Leitfaden, die diese zwei Eckpfeiler verbindet. Projekte können groß und klein, für die Veröffentlichung bestimmt oder nur für sich selbst sein. Man kann versuchen, mit seinem Projekt Geld zu verdienen, oder es für einen guten Zweck machen, aber eines ist meist garantiert: Der Lerneffekt und die Qualität der investierten Zeit wird deutlich gesteigert.
Warum sich nicht von Anfang an eine spezielle Präsentationsform für sein Projekt ausdenken? Wer von Anfang an weiß, wohin er mit seinen Fotos will, wer versteht, wie jedes Bild ein Puzzle im Großen und Ganzen ist, wird auch lernen, konzeptuell zu arbeiten, anstatt ein schönes Bild an das nächste zu reihen. Vielleicht ein Kalender? Zwölf, in Motiv und Gestaltung unterschiedliche Monatsblätter, jeweils im Wandel der Jahreszeiten? Gar kein leichtes Unterfangen! Ein kleines Fotobuch? Ein Zeitraffer-Video, ein mit Musik hinterlegter Kurzfilm/Trailer? Oder gar ein Vortrag mit einer Mischung aus Videos, Zeitraffern und Bildern. Überlegungen vorab sind gefragt, Drehbücher, Buchkonzepte, Skripte, Recherchen. Selbst der Weg bis zum Ziel kann als Präsentation herhalten: In Zeiten der Social Media kann man das Werden eines Projektes als Facebook- oder Instagram-Seite vor den Augen anderer Menschen dokumentieren. Noch nie gab es mehr und bessere Möglichkeiten, mit seiner Fotografie Aufmerksamkeit zu bekommen und Interesse zu wecken. Bloß – auf die Ideen kommt es an …
Als optische Grundlage haben wir hierfür im ersten Kapitel hoffentlich viele Ideen für einzelne Aufnahmen spendiert. Welche Ergebnisse, welche Präsentation man erzielen will, hängt freilich auch vom vorhandenen Equipment und den angewandten Techniken ab. Film, Foto, Timelapse etc. und hierfür haben wir im zweiten Kapitel versucht, einen groben Überblick zu verschaffen. In unserem dritten Kapitel wollen wir daher auch ein paar Ideen geben, wie man seiner Faszination für die urbane Naturfotografie auch einen schönen Rahmen geben kann.
Kleine Projekte: Garten, Balkon, Terrasse, Wohnung
Wer sich so glücklich schätzen kann, einen Garten oder eine Terrasse zu besitzen, sollte dies unbedingt für fotografische Kleinprojekte nutzen. Aber selbst in einer Wohnung ohne solchen Luxus gibt es tolle Möglichkeiten.
Im Garten lassen sich Insekten und diverse Vögel anhand bestimmter Pflanzen anlocken und fotografieren. Man kann somit ein fotografisches Album der in seinem eigenen kleinen »Reich« vorkommenden Spezies machen. Nicht nur selber wird man sehr fasziniert sein, wie viele Tierarten sich in kürzester Zeit und zu allen Jahreszeiten porträtieren lassen, mitunter finden sich viele andere Menschen, die sich davon inspirieren lassen.
Warum immer in exotische Gefilde reisen? Eine fotografische Expedition durch den Garten, ausgerüstet mit Tele-Makro-Objektiv, kann ebenso spannend sein wie eine Safari ins brasilianische Pantanal. Mit dem riesigen Vorteil, ganz genau zu wissen, wann und wo man zu welcher Jahreszeit schauen muss, und dabei immer in kürzester Zeit vor Ort zu sein. Je nach Größe der Terrasse kann man Ähnliches auch hier versuchen. Ein Vogelhäuschen und Insektenhotel haben auf jedem Balkon Platz. Wir haben schon viele erfolgreich brütende Vögel in Nistkästen oder gar nur Blumenkästen gesehen. Enten, Tauben, Meisen, Eichhörnchen, Schwalben, Mauersegler und nicht selten sogar Turmfalken. Für die Montage eines Nistkastens benötigt man nicht einmal einen Balkon, das geht auch an der Hausfassade. Freilich muss so etwas fachmännisch gemacht und gegebenenfalls mit der Hausverwaltung abgesprochen sein. Für Timelapse-/Zeitraffer-Aufnahmen bietet das eigene Heim freilich enorme Vorteile. Man kann ein Langzeitprojekt – etwa einen ganz speziellen Blick aus dem Fenster, die Entwicklung eines Strauchs oder Blumenbeets oder das Heranwachsen einer Vogelfamilie ganz bequem – sozusagen mit Hausschlapfen (Hauspantoffeln) durchziehen. Jeden Tag ein Bild von der exakt gleichen Position – ein Jahr lang, jede Stunde ein Bild – eine Woche lang – was immer das Thema ist.
Mittelgroße Projekte
Hier fallen mir zwei grundsätzliche Varianten ein: das Porträt eines städtischen Biotops bzw. Grünraums oder das Begleiten eines ur banen Naturschutzprojektes. Vielleicht gelingt in manchen Fällen sogar eine Kombination von beiden Varianten. Fotoprojekte dieser Art sind, wenn sie gut gemacht sind, sowohl für Publikationen in Tageszeitungen oder Magazinen interessant – speziell wenn dabei ungewöhnliche Tierfotos entstehen – und eignen sich für eine größere Interessensgemeinde via Social-Media-Plattformen.
Egal, wo man in einer Stadt wohnt, ein Park, Garten oder sonst eine Form von Grünraum ist in der Nähe. Im
Idealfall sogar eine Stadtbrache, für deren Erhalt man sich einsetzen könnte. Auch viele städtische Gewässer strotzen vor mehr Leben, als man auf den ersten (oft traurigen) Anblick annehmen würde. Und auch wenn dem nicht so ist, kann man sich mittels eines fotografischen Projektes für die Renaturierung eines städtischen Biotops – Teich, Fluss, Wiese o.Ä. – engagieren. Selbst unachtsam weggeworfener Müll lässt sich optisch interessant in Szene setzen. Die Tier- und Pflanzenwelt eines Biotops außerhalb der eigenen vier Wände (plus Garten) zu erkunden, bedeutet deutlich mehr Aufwand als jene in Punkt 7.1. Mit ein wenig Kreativität lassen sich jedoch sehr ungewöhnliche Motive einfangen. Unterwasser-Motive aus einem Gartenteich oder Brunnen etwa oder Makro-Aufnahmen aus der Sicht der Insekten mit einem Weitwinkel-Makro-Objektiv.
Allerdings lassen sich viele Aufnahmetechniken nicht so einfach umsetzen wie zu Hause. Bei Langzeit-Timelapse-Aufnahmen über einen Zeitraum von Wochen oder Monaten riskiert man, dass die Kamera dabei gestohlen wird. Hier muss man sich eine Fixposition markieren, die jederzeit wieder gefunden werden kann, und die Kamera jedes Mal neu montieren bzw. aufstellen. Wir haben das in manchen Fällen gelöst, indem wir ein Gehäuse einer Go Pro (da gibt es viele unterschiedliche, die alle nicht teuer sind) so versteckt montieren konnten, dass es unentdeckt blieb. Ist es wirklich gut fixiert, braucht man nur die Kamera mitzubringen, ins Gehäuse zu stecken und seine Aufnahme zu machen.
Die zweite Möglichkeit für ein schönes urbanes Naturfoto-Projekt ist es, ein Naturschutz-Projekt fotografisch zu begleiten bzw. zu dokumentieren. Solche gibt es fast überall, sei es von der Stadt selbst initiiert bzw. von NGOs betrieben oder eben auch privater Natur. Es gibt sie, um für den Schutz von Turmfalken zu sorgen, Schmetterlingswiesen zu erhalten, Amphibienwege zu schützen, Winterplätze für Igel zu schaffen, Nistplätze für Mauersegler zu installieren, und noch viele mehr. All diese Initiativen brauchen meist gute Fotos oder freuen sich über Publicity. Im Gegenzug kommt man als Fotograf zu wesentlich interessanteren Motiven, als immer nur von »außen« zuzusehen. Im Gespräch mit den Biologen oder Wissenschaftlern erfährt man meist weitere Tipps und Hinweise, wo man eventuell zu guten Fotos kommen kann.
Wie schon im Eingangs-Essay erwähnt, urbane Natur ist ein Trendthema, das so schnell nicht verschwinden wird. Fast jede europäische Metropole hat Konzepte in der Schublade, wie die Lebensqualität ihrer Bürger gehoben werden kann. Mehr Natur zu schaffen, gehört fast immer dazu.
Urban Gardening ist ein populäres Thema. Immer mehr Städter pachten kleine Grundstücke, um eigene Gemüse- oder Blumenbeete anzulegen. Dadurch entsteht nicht nur Grünraum, es kommt auch der Natur zugute, man denke etwa an Bienen oder Vögel.
Großprojekte – Multimedia- Projekte
Neben den Ideen unter den bisher angeführten gibt es noch jede Menge Möglichkeiten. Nach oben hin bietet die urbane Naturfotografie
schier endloses Potenzial. Es ist nur eine Frage, wie viel Zeit man inves-tieren kann und möchte und ob man sich so etwas zutraut. Im Zweifelsfall lieber eine Stufe hinunterschalten, als eine halbe Sache zu machen. So lautet zumindest immer unser Zugang. Das bislang größte Projekt zu diesem Thema ist WIENER WILDNIS, das sich der gesamten Stadtnatur einer europäischen Metropole widmet – und zwar in allen Facetten. Aber auch wir waren nicht die Ersten. Florian Möllers hat sich schon vor einigen Jahren der Natur Berlins gewidmet und dazu ein Buch samt Ausstellung herausgebracht. Einige andere Fotografen widmen sich der urbanen Natur ganz allgemein, unabhängig von einer spezifischen Stadt: der Engländer Sam Hobson oder der Schweizer Laurent Geslin, von dem der sehr empfehlenswerte Bildband »Urban Safari« stammt. Unter dem Titel »Naturopolis« gibt es eine ganze TV-Doku-Serie über die Natur von Paris, Rio de Janeiro, Tokio oder New York.
Man kann sich ein Netz von kleineren Projekten schaffen und zu einem großen Ganzen zusammenflechten. Man kann die Natur und/oder Tierwelt einer ganzen Stadt dokumentieren und porträtieren oder sich die »Rosinen« ganz unterschiedlicher Metropolen herauspicken. Alligatoren in Miami, Wildschweine in Berlin, vielleicht schon bald Wölfe in Hamburg? Solche Großprojekte können als Story im GEO oder National Geographic landen, als audio-visuelle Vorträge begeistern, sollten fast zwingend via Social-Media-Seiten begleitet sein und haben eigentlich keinerlei Limit, was ihre Publikationsmöglichkeiten betrifft. Klar ist, wer sich so etwas vornimmt, muss sich vorab einen genauen Plan machen und mit System an das Projekt herangehen. Zu vielschichtig ist das Thema und zu groß die Gefahr, sich darin zu verlieren. Der Output ist rein abhängig von der Zeit, die man bereit ist, zu investieren. Wien ist zugegebenerweise eine sehr schöne und an Natur reiche Stadt. Unser Erfolg baut aber in erster Linie auf konsequente fotografische Arbeit, gepaart mit dem Einsatz vieler moderner Kommunikationsmittel auf und ist somit auch an vielen anderen Orten wiederholbar. Also haltet die Augen offen und seht euch in eurer Heimatstadt einmal genauer um – das nächste coole Projekt lauert vielleicht schon hinter der nächsten Ecke.
Dieser Beitrag ist in ProfiFoto 9/16 erschienen.
DIE EDITION PROFIFOTO
Die Experten der Redaktion ProfiFoto und aus dem mitp-Verlag bündeln ihr Know-how und publizieren in Zusammenarbeit mit erfahrenen Autoren, die unmittelbar aus der Foto-Praxis kommen, eine einmalige Fachbuchreihe „made for professionals“: Ergänzend und flankierend zum Magazin ProfiFoto bieten die mitp-Bücher der Edition professionelles Wissen zum richtigen Umgang und zur effizienten Nutzung digitaler Fototechnik und Bildbearbeitung.
Urbane Naturfotografie
von Georg Popp & Verena Popp-Hackner, mitp Verlag 2016, 1. Auflage 2016, 208 Seiten, Softcover, Format 22 x 22 cm, ISBN 978-3-82669-396-0, 29,99 Euro
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