Die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) hat ihren Kulturpreis 2024 an Gerhard Steidl verliehen. ProfiFoto sprach mit dem Gestalter, Drucker und Verleger über seine international gefragte Buchkunst.
ProfiFoto: Gerhard Steidl, herzlichen Glückwunsch zum Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. Angesichts der vielen Preise, die Sie bereits erhalten haben, welche Bedeutung hat er für Sie?
Gerhard Steidl: Der DGPh Kulturpreis und der Sony World Photography Award für mein Lebenswerk sind die für mich bedeutendsten Preise, die mir verliehen wurden. Und zwar deswegen, weil beide einen Bezug zu meiner Biografie haben. Dazu muss ich etwas ausholen: Als ich noch ein Heranwachsender war, hatte meine acht Jahre ältere Schwester einen Freund, der eine Ausbildung in einem Fotogeschäft machte. Irgendwann waren unsere Eltern weg und meine Schwester wollte mich für ein paar Stunden aus dem Haus haben. Ihr Freund brachte mir eine Kodak Retina mit und schickte mich vor die Tür zum Fotografieren. Als er den Film im Laden entwickelte, wollte ich natürlich dabei sein, das hat mich fasziniert.
Von meinem Taschengeld richtete ich mir im Keller meiner Eltern mit gebrauchten Geräten eine kleine Dunkelkammer ein, und fotografierte bei Hochzeiten und Geburtstagen. Was mir schnell zu langweilig wurde. Als Nächstes habe ich mir die Schaufenster der Göttinger Einzelhandelsgeschäfte angesehen, die oft sehr schlecht dekoriert waren. Von meinen „künstlerischen Fotos“ habe ich dann Abzüge gemacht und sie zum Beispiel für die Schaufensterdekoration eines Wollgeschäfts genutzt. 15 DM habe ich für Fotos und Dekoration berechnet.
Mein wichtigstes Lehrbuch zu der Zeit war Andreas Feiningers Große Fotolehre. Das war meine Bibel, weil Feininger die Fotografie unter einem künstlerischen Aspekt betrachtet. Ich hatte die Vorstellung, Berufsfotograf zu werden, bis ich mich auch für Gestaltung zu interessieren begann. Mit sechzehn hatte ich bei Theaterproben fotografiert, und mit einem der Fotos das Plakat für die kommende Premiere gestaltet und für den Druck vorbereitet. Natürlich wollte ich auch beim Druck dabei sein. Format A2, einfarbig Schwarz, für mein Foto eigentlich ideal. Heraus kam jedoch kein Schwarz, sondern bestenfalls ein Dunkelgrau. Was folgte, waren die auch heute noch verbreiteten Erklärungen der Drucker: „Das geht nicht besser“. „Das war schon immer so“. Woraufhin ich sie gebeten habe, das schlecht bedruckte Papier noch einmal durch die Maschine laufen zu lassen. Das Ergebnis fiel halbwegs gut aus, denn schwarz war jetzt auch tatsächlich schwarz. Und in der Sekunde wurde mir klar: wenn ich als Berufsfotograf etwas werden wollte, musste ich Druckern erklären können, wie meine Fotos aussehen sollen. Also habe ich mir das Drucken beigebracht …
ProfiFoto. Und sind Sie dabei geblieben …
Gerhard Steidl: Weil es mir letzten Endes mehr Spaß machte. Ich habe weiterhin fotografiert, aber vor allen Dingen Plakate für Kulturveranstaltungen entworfen, immer Fotos und Text, gedruckt wurde im Siebdruck. Das war das, was ich mir leisten konnte. Aber das Siebdruck-Verfahren zu der Zeit war für Fotos nicht gerade ideal.
ProfiFoto: Und wie kam es dann zum Fotobuchdruck?
Gerhard Steidl: Fotografie für Bücher zu drucken war und ist für mich die Königsklasse. Mir war klar, dass ich dazu eine Offset-Maschine brauchen würde. Tiefdruck war für den Druck von Fotografie für lange Zeit der Goldstandard. Irgendwann war ich so weit, mit meinem Offsetdruck damit qualitativ konkurrieren zu können und hatte das Glück, 1984 Walter Keller vom Scalo Verlag in Zürich kennenzulernen. Das erste Buch in seinem 1989 neu gegründeten Fotoverlag entstand mit einem Schweizer Fotografen, der in die USA ausgewandert war. Sein Name war Robert Frank. Ich durfte das Buch drucken, obwohl Robert zunächst mehr als skeptisch war, ob ich das hinbekomme.
Das Ziel war, dass meine Offset-Drucke so aussehen, wie seine Prints aus der Dunkelkammer. Die Lösung dafür war, die Bögen nicht im CMYK-Prozess zu drucken, sondern im Duoton oder noch besser im Triton oder sogar Quadroton (also mit Schwarz und Graufarben).
ProfiFoto: Sie machen Bücher für das Who-is-who der internationalen Fotoszene. Kommen diese Fotografen eigentlich auf Sie zu, oder wie gewinnen Sie die Fotografen für Ihre Buchprojekte?
Gerhard Steidl: Normalerweise kommen die Fotografen auf uns zu. Jedes Jahr erhalten wir rund 1200 Submissions, von denen 80 Prozent aus unserer Sicht nicht in Frage kommen. Manchmal, gerade wenn es sich um jüngere Fotografen handelt, folgen wir aber Empfehlungen. Am liebsten beurteile ich Buchdummies, die aus Papier und eingeklebten Fotos gebastelt sind.
ProfiFoto: Sind Sie in erster Linie Unternehmer, oder leidenschaftlicher Qualitätsliebhaber?
Gerhard Steidl: Günter Grass hat einmal über mich gesagt: „Steidl ist ein Manchester-Kapitalist, dem man einige Manieren beigebracht hat.“ Trifft vielleicht zu.
Ich wollte mich nie zu sehr verschulden, weil ich unabhängig bleiben wollte. Wir verdienen mit unserem Verlag gerade so viel Geld, wie wir benötigen, um bezahlen können, was wir für die Produktion brauchen. Dabei sind wir immer wieder bis an die Grenze gegangen: Es gab Jahre, in denen es gut, und Jahre, in denen es weniger gut lief.
Aber ich habe einen Rat befolgt, den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt mir als blutjungem Drucker und Verleger gab: Wenn du Geld verdienst und Gewinn gemacht hast, dann kauf Real Estate. Und wenn du Verlust machst, dann beleihe diesen Real Estate, damit du über die Runden kommst. Daran habe ich mich gehalten und 1971 mit Anfang zwanzig für 14.000 DM das Grundstück gekauft und bebaut, auf dem die Druckerei heute noch steht.
ProfiFoto: Beim Gang durch den Drucksaal fiel mir auf, dass es zum Beispiel Druckfarbendosen mit dem Label „Lagerfeld Beige“ gibt. Was hat es damit auf sich?
Gerhard Steidl: Das sind speziell angemischte Druckfarben für den Triton-Druck. Tim Rauert zum Beispiel legt Wert auf einen sehr neutralen, kühlen Grauton, Lagerfeld hingegen bevorzugte „Warm Grey“.
In der Regel nutzen wir Pantone-Farben, da haben wir unter anderem die Wahl zwischen ungefähr 400 bis 500 Grautönen. Das Lagerfeld Beige ist aber eine Mischung auf Basis von HKS, ein anderes Farbsystem. Wir kämpfen ja manchmal um feinste Nuancen. Wenn ein Fotograf zum Beispiel einen „ganz kleinen Hauch mehr Wärme“ wünscht, was heißt das dann? Mische ich Magenta in ein schon warmes Grau, einen Ockerton? Das ist alles relativ. Ich muss das zu druckende Foto analysieren und nehme dann zum Beispiel Pantone 402, also ein sehr dunkles Umbra, und mische es mit Pantone 416, ein helles Ocker, und dann kommt ziemlich genau das raus, was der Fotograf haben will, so wie beim Druck des Fotobuchs „Whatever You Say, Say Nothing“ von Gille Peress.
ProfiFoto: Klingt so, als wären Sie eine Art Alchemist. Entstehen so auch die Schwarztöne, für die Ihr Druck bekannt ist?
Gerhard Steidl: Nein, dafür verwenden wir von mir entwickelte hochpigmentierte Farben. Echte Pigmente sind natürlich teurer. Ein normales, billiges Schwarz kostet pro Kilo ungefähr sieben Euro, unser Schwarz liegt bei 30 Euro. Man braucht natürlich auch ein bisschen Know-how, weil diese pigmentierten Farben sehr leicht zwischen Druckplatte und Gummituch verkleben. Um die zu verarbeiten, muss man eine Farbwerk-Temperierung haben, die eine Druckmaschine wie die unsere um ungefähr 600.000 Euro verteuert.
Aber beim Drucken ist es wie beim Kochen: Wenn ich industriell vorgefertigte Lebensmittel einsetze, habe ich ein anderes geschmackliches Erlebnis, als wenn ich alles auf dem Markt direkt vom Erzeuger kaufe. Das ist zwar teurer, schmeckt aber auch besser.
Viele Drucker setzen aber das Billigste ein, was es gibt, um den Profit möglichst hochzuhalten. Wir produzieren teurer als andere, aber heute besinnt man sich in vielen Bereichen auf die Qualitäten des Manufakturgewerbes. Und das habe ich eben nie aufgegeben. Vor 30 Jahren wusste ich nicht, dass man unser Geschäftsmodell Manufaktur nennt, aber heute bin ich stolz darauf.
ProfiFoto: Was muss passieren, damit Sie statt einer Offset-, eine Digitaldruckmaschine kaufen?
Gerhard Steidl: Das wird garantiert nicht passieren, weil Digitaldruck nicht für künstlerische Arbeiten geeignet ist. Bei einer Offset-Maschine steht ein viel größerer Farbraum zur Verfügung. Außerdem kann man mit Digitaldruck kein Duo-, Tri- oder Quadroton drucken.
Natürlich kann ich im Photoshop so lange rumprobieren, bis ein Schwarzweißfoto gut aussieht, aber wenn es etwa bei Landschaftsaufnahmen darauf ankommt, ganz weiche Grautönungen zu erzielen, kann ich im Offsetdruck zum Beispiel matte Farben einsetzen, die ich zusätzlich mit zwei verschiedenen Mattlacken veredle. Dann wird das Ergebnis so sanft wie ein Tiefdruck aus den 1970er Jahren.
ProfiFoto: Reden wir über den Fotobuchmarkt. Wie hat der sich aus Ihrer Sicht in den letzten Jahrzehnten verändert?
Gerhard Steidl: Ein Fotobuch ist für mich eine Ausstellung in Buchform. Aber im Vergleich zu Galerien oder Museen sind Bücher viel zugänglicher.
Als Robert Frank 1958 The Americans gestaltete und konzipierte, wollte er das Buch nur mit Fotos, ohne Seitenzahlen und Text realisieren. Die Idee hatte er von Walker Evans übernommen, der der Ansicht war, dass ein Bild, das einer Erklärung bedarf, nichts taugt. Fotografie diente zu der Zeit jedoch vor allem als Illustration in Zeitungen, Magazinen und Reisebüchern. Das moderne Fotobuch haben aber Verlage wie Schirmer-Mosel und Scalo entwickelt. Der eigentliche Revolutionär war Walter Keller von Scalo, der die Künstlerinnen und Künstler so respektierte, dass er die Buchkonzepte mit ihnen gemeinsam entwickelte.
ProfiFoto: Aber während die Zahl der neu erscheinenden Titel – viele davon im Selbstverlag – kontinuierlich steigt, sinken die Auflagen.
Gerhard Steidl: Während vor zehn Jahren viele Fotografinnen und Fotografen vor allem daran interessiert waren, von einer Galerie vertreten zu werden, ist es heute an erster Stelle erstrebenswert, ein Fotobuch zu realisieren. Auch, weil es gar nicht so viele Verlage gibt, bei denen all diese Bücher erscheinen könnten, hat sich das Selfpublishing etabliert, und viele dieser selbstverlegten Fotobücher sind wirklich gut. Aber zumindest wenn man – so wie wir – global tätig ist, ist der Markt noch ganz gesund.
ProfiFoto: Welche Rolle spielt dabei der Buchhandel?
Gerhard Steidl: Auf der ganzen Welt gibt es ungefähr 200 Buchhandlungen, die unsere Bücher führen. Und damit kommt man schon hin. Von jedem Titel verkaufen wir mindestens zwei- oder dreitausend Exemplare, von Nan Goldin Bildbänden und einigen anderen liegen die Auflagen über 10.000 Bücher.
Natürlich kann man Steidl-Bücher auch über Amazon beziehen, auch wenn wir keine direkten Geschäfte mit denen machen. Die Rabattforderungen von Amazon sind unanständig, und mich stört, wie lieblos hochwertige Bücher verpackt werden. Das können wir professioneller. Über unseren Webshop vertreiben wir weltweit. Wir legen unseren Preis in Euro, Pfund und Dollar fest und geben keinerlei Rabatt. Neigt sich die Auflage eines Titels dem Ende zu, gehen wir mit dem Preis hoch. Discount gibt es nie – außer natürlich für den Buchhandel.
ProfiFoto: Sie sind 74 Jahre alt. Gibt es Pläne für die langfristige Zukunft des Verlags?
Gerhard Steidl: Außer im künstlerischen Bereich wird Gedrucktes vermutlich irgendwann obsolet.
Martin Parr hat einmal gesagt, jeder Verlag hätte eine Dekade, um das Fotobuch voranzubringen. Die ist in unserem Fall längst vorbei. Aber ohne arrogant wirken zu wollen: bis heute ist nicht viel nachgekommen. Unser Verlag ist eine Stiftung, weil ich keine Kinder habe, die den Verlag übernehmen könnten. Ich habe was die Arbeit betrifft, wie Lagerfeld es auch für sich selbst gesagt hat, lebenslänglich. Ich mache das so lange, bis ich an der Druckmaschine umfalle. Aber es ist schon in gewisser Weise sichergestellt, dass es auch danach mit dem Verlag weitergeht.
Fotos: Petra Gerwers