Die ersten Fotografien aus Deutschland sind bereits zwei Jahre vor dem offiziellen Geburtsjahr der Fotografie, 1839, entstanden. Warum die Geschichte erst jetzt ans Tageslicht kommt, erzählt die Entdeckerin Cornelia Kemp im Interview.
Die Erfindung der Fotografie wird normalerweise auf das Jahr 1839 datiert. Am 19. August gab Louis Daguerre die Erfindung seiner Daguerreotypie bekannt. Der Engländer Henry Fox Talbot, ebenfalls ein Pionier der Fotografie, berichtete im selben Jahr von seiner Erfindung, der Kalotypie. Cornelia Kemp, langjährige Kuratorin für Foto und Film im Deutschen Museum, hat in akribischer Recherche die Fakten für ihr neues Buch „Licht – Bild – Experiment“ zusammengetragen, in dem sie die Frühgeschichte der Fotografie nachzeichnet.
Cornelia Kemp, im Deutschen Museum haben Sie Fotografien entdeckt, die vor 1939 entstanden sind, richtig?
Ja. Mehrere Aufnahmen, die sich in unserer Sammlung befinden, stammen aus dem Jahr 1837 – und sind eindeutig datiert. Bisher ging man davon aus, dass die ersten Fotos in Deutschland erst 1839 gemacht worden sind. Das heißt: Diese Fotos sind zwei Jahre vor der offiziellen Bekanntgabe der Erfindung der Fotografie entstanden. In Deutschland. In München. Das erste Foto unserer Sammlung zeigt die Frauenkirche.
Wer hat die Aufnahmen gemacht?
Das wissen wir: Wir haben eine Mappe mit einer ganzen Reihe von Fotografien – und da liegt ein Zettelchen dabei, auf dem steht: ,Photographische Versuche von mir mit Steinheil‘. Da fragt man sich natürlich: Wer ist ,mir‘? Aber durch die Handschrift lässt es sich eindeutig belegen – es ist die von Franz von Kobell.
Warum hat sich Kobell überhaupt mit der Fotografie beschäftigt?
Es gibt eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Überlieferung, die sich mit der Lichtempfindlichkeit von Silbernitrat beschäftigt. 1802 gab es eine englische Publikation von Humphry Davy, in der es bereits um die fotografische Reproduktion von Graphik und Versuche mit der Camera obscura ging, doch war es eben nicht möglich, die Bilder zu fixieren. Das waren alles Chemiker und Kobell waren deren Publikationen zweifellos bekannt. Kobell war von Haus aus Mineraloge, er hat seine Gesteine immer auch chemisch untersucht – mit Lösemitteln. Da hatte er auch mit Hornsilber zu tun, was aus Silberchlorid besteht, und wusste genau, dass das durch Ammoniak zu lösen ist. Da hat er dann offensichtlich auch die Versuche von Davy wiederholt und eben mit Ammoniak das unbelichtete Silber aus dem Papier herausgewaschen.
Und warum hat Franz von Kobell nie etwas von seiner Erfindung erzählt?
Nachdem Kobell diese Aufnahmen 1837 gemacht hat, hat er darüber kein Wort verloren. Er hat sich mit dem Verfahren auseinandergesetzt und herausgefunden, wie man die belichteten Bilder fixiert – indem man das unbelichtete Silber herauslöst. Als er wusste, wie man die Bilder fixiert, hat er sich nicht weiter damit beschäftigt. Kobell kommt aus einer bedeutenden Künstlerfamilie, sein Großonkel Franz Josef Innozenz Kobell hat wundervolle Aquatinta-Zeichnungen von München gemacht – da gibt es Grafiken mit einem ganz dramatischen Himmel. Auf den Fotografien aber ist der Himmel einfach nur eine braune Fläche. Im Vergleich mit diesen Arbeiten muss ihm die Fotografie künstlerisch wertlos erschienen sein – auch deshalb hat er sie nicht weiterverfolgt.
Und was ist Steinheils Rolle dabei? Carl August von Steinheil gilt ja zusammen mit Kobell als Vater der deutschen Fotografie.
Steinheil hat Daguerreotypien gemacht. Das Verfahren ist sehr kompliziert, und deshalb konnte Steinheil das erst, nachdem Daguerre seine Erfindung bekanntgegeben hatte. Zwei Wochen nach der Bekanntgabe von Daguerre hat Steinheil auch Daguerreotypien angefertigt. Das sind die ersten Daguerreotypien in Deutschland, die auch gleich im Kunstverein ausgestellt wurden.
Steinheil wurde auch eher die Hauptrolle dabei zugedacht als Kobell, oder?
Kobell und Steinheil werden in der Literatur immer zusammen genannt. Man hat nie unterschieden, wer was gemacht hat. Kobell hat aber tatsächlich die ersten Aufnahmen gemacht – Steinheil hat ihm dann lediglich empfohlen, eine Rohrkamera für seine Aufnahmen zu verwenden, die runde Bilder macht. Deshalb gibt es auch runde Aufnahmen von der Frauenkirche – vom gleichen Standort aus fotografiert. Dann sind Steinheil und Kobell am 13. April 1839 zusammen in der Akademie der Wissenschaften aufgetreten und haben das Verfahren bekanntgemacht. Kobell hat erklärt, wie das mit der Chemie funktioniert, und Steinheil hat gesagt: Dazu nimmt man eine Rohrkamera. Und seitdem hieß es immer: Die Aufnahmen sind von den beiden. Später hat man sich immer mehr auf Steinheil konzentriert – und Kobell ist völlig unter den Tisch gefallen, obwohl die ersten Aufnahmen von ihm waren.
Franz von Kobell kennt man heute eher als Vater des Brandner Kaspars als den Vater der deutschen Fotografie.
Richtig. Er hat genau in dem Jahr angefangen zu dichten, als er mit der Fotografie aufgehört hat. Er war ein sehr vielseitiger Mann und hat unter anderem auch sehr schön Zither gespielt.
Und warum weiß man erst seit heute, dass die Bilder von 1837 sind?
Das ist eine sehr gute Frage – und die Antwort hat eine längere Vorgeschichte. Die Bilder waren lange im Besitz eines Münchner Fotochemikers namens Johann Baptist Obernetter. Sein Sohn Emil Obernetter hat sie dem Deutschen Museum im Jahr 1906 gestiftet. Und weil sie auf Karton befestigt waren und sich in Rahmen befanden, konnte man die Rückseiten auch nicht sehen. In diesen Rahmen blieben sie bis zum hundertjährigen Jubiläum der Fotografie 1939. Da hat man dann die Fotografien in neue Passepartouts gepackt. Allerdings, ohne auf die Rückseiten zu sehen. Und in diesen Passepartouts von 1939 habe ich die Fotografien dann später vorgefunden.
Wie lange haben Sie für die Recherchen gebraucht, um das Buch schreiben zu können, bis Sie sicher sein konnten, dass die ersten Fotos tatsächlich von 1837 sind?
Ich habe vier Jahre lang an dem Buch gearbeitet – natürlich nicht durchgehend. Aber es war eine sehr intensive Recherche in vielen Archiven, der ich mich allerdings erst nach meiner Zeit als Kuratorin am Deutschen Museum widmen konnte.
Warum gilt denn trotz allem 1839 als Geburtsstunde der Fotografie?
Es ist dies das Jahr, in dem die Erfindung der Fotografie öffentlich bekannt gegeben wurde. Das hat mit Daguerre zu tun. Er war ein sehr schlauer Geschäftsmann, er hatte seinen Schwager damit beauftragt, Kameras zu bauen und dafür gesorgt, dass es auch eine Gebrauchsanweisung für seine Art der Fotografie gibt. Ab dem Moment, an dem die Erfindung in der Akademie der Wissenschaften in Paris bekanntgegeben war, konnten die Leute in den Laden gehen und eine Kamera und alles nötige Equipment kaufen. Und auch Talbot hat Anfang 1839 vor der Royal Society beschrieben, wie seine Papierfotografie funktioniert.
Landläufig versteht man aber die Daguerreotypie als Beginn der Fotografie. Daguerre war ja der erste, der die Fotografie mit Kameras zur Serienreife gebracht hat. Talbot nicht, und Kobell auch nicht.
Das stimmt, aber für Kobell und Steinheil war das eben auch nur ein Experiment. Deshalb heißt mein Buch auch „Licht – Bild – Experiment“. Als sie das Prinzip verstanden hatten, haben sie sich wieder anderen Themen zugewendet.
Die ersten erhaltenen Bilder von Daguerre sind ebenfalls von 1837, richtig?
Ja.
Können wir ausschließen, dass Kobell vor Daguerre die ersten Fotografien angefertigt hat?
Wir wissen nicht genau, wann Daguerre seine ersten Fotos angefertigt hat. Man kennt das Jahr, aber nicht den Tag. Was Kobell betrifft, so haben wir das Glück, dass er seine Aufnahme so genau datiert hat: März 1837. Dass die Geburtsstunde der Fotografie erst im Jahr 1839 geschlagen hat, ist in jedem Fall eine Vereinbarung, die sich vor allem auf die Praktikabilität der Fotografie bezieht. Es gibt immer Vorläufer. Die erste erhaltene Kameraaufnahme von Nicephore Niépce stammt von 1826 und Talbot hat schon 1835 ein Fenster in seinem Landsitz in Lacock Abbey fotografiert. Aber das wurde eben alles geheim gehalten, weil es noch nicht ausgereift war.
Wir können also nicht sagen: Von Kobell stammen die ersten Fotografien der Welt?
Was wir mit Sicherheit sagen können: Es sind die ersten Fotografien in Deutschland – das steht felsenfest. Es gibt keine Belege für frühere Fotos in Deutschland. Und: Die ersten Fotografien Deutschlands sind also zwei Jahre früher gemacht worden als ursprünglich angenommen. Das wissen wir sicher. Und: Wir haben die Bilder, sie sind erhalten, sie haben eine Datierung, und sie sind in München entstanden. Und wir wissen jetzt, dass das erste in Deutschland entstandene Foto die Frauenkirche zeigt. Das ist schon eine ganze Menge.
Die Geschichte der Fotografie muss also nicht neu geschrieben werden?
Die Weltgeschichte der Fotografie nicht, die Geschichte der deutschen Fotografie schon.
*Cornelia Kemp: Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München, Reihe: Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge; Bd. 37, 351 S., 217 z. T. farbige Abbildungen, ISBN 978-3-8353-5557-6, Preis: 36 Euro