Peter Karbe ist Photoingenieur, gelernter Fotograf und seit über 30 Jahren als Optik-Designer bei Leica tätig. Viele Leica-Objektive, die in den letzten drei Jahrzehnten entwickelt wurden, tragen auch seine Handschrift.
ProfiFoto: Leicas Motto lautet „Das Wesentliche“, was vor allem für das reduzierte Kameradesign steht. Was bedeutet „Das Wesentliche“ für Sie in Bezug auf Objektive?
Peter Karbe: Auf den Punkt gebracht: die Beste Balance zwischen Lichtstärke, Baugröße und Abbildungsleistung.
ProfiFoto: Was ist eigentlich mit der Leica M-typischen „Art des Sehens“ gemeint?
Peter Karbe: Anders als bei einer Kamera mit SLR- oder EVF-Sucher, ist mit dem klassischen Messsucher der M die Bildwirkung des Objektivs nicht direkt sichtbar. Mit dem Sucher einer M kann man den Bildausschnitt beurteilen und fokussieren. Die mit der Blendenwahl verbundene Tiefenschärfe muss man sich vorstellen. Gleichzeitig sieht man durch den Sucher meist mehr als den Bildwinkel, den das Objektiv abdeckt. So lässt sich bei bewegten Motiven der Zeitpunkt der Aufnahme besser voraussehen oder durch den Sucher der Ausschnitt besser korrigieren.
ProfiFoto: Wie groß ist der Einfluss, den Optikdesigner auf das Erlebnis Leica ausüben?
Peter Karbe: Das „Leica Erlebnis“ entsteht erst durch das Zusammenwirken dreier Bereiche: Optik-Design, Konstruktion (dazu zähle ich auch das äußere Design und die Haptik) und die Fertigungsqualität. Dementsprechend hat das Optikdesign einen Anteil von rund 30 Prozent am Ganzen. Das Zusammenwirken der Bereiche ist entscheidend und erst das Zusammenspiel aller Arbeitsschritte macht das Leica Erlebnis erfahrbar.
ProfiFoto: Was hat sich in den drei Jahrzehnten, die Sie persönlich am Optikdesign bei Leica beteiligt sind, verändert?
Peter Karbe: Die Leistung der Objektive hat sich deutlich gesteigert: Wie verfügen heute über lichtstärkere, kompaktere Objektive mit höherer Abbildungsleistung. Ermöglicht wird das durch den konsequenten Einsatz von Asphären und optischen Gläsern, die eine bessere Farbkorrektion ermöglichen. Hier können wir heute Glassorten nutzen, die extrem anspruchsvoll in der Verarbeitung sind, weil sie schnell korrodieren oder verkratzen und die wir früher deshalb nicht verwenden konnten. Heute erlauben verbesserte Arbeitsprozesse den Umgang damit.
ProfiFoto: Welches Objektiv würden Sie als Ihr persönliches Meisterwerk bezeichnen?
Peter Karbe: Das Summilux M 1:1.4/50 ASPH, denn das stammt sehr weitgehend von mir persönlich. Im aktuellen Programm ist das LEICA APO-SUMMICRON-M 1:2/35MM ASPH. mein Favorit, weil es die bereits beschriebene Balance zwischen Lichtstärke, Baugröße und Abbildungsleistung ideal verkörpert.
ProfiFoto: Die Leica APO Optiken gelten generell als die für die Digitalfotografie optimale Wahl. Was ist der Unterschied zwischen den APO-Summicron Objektiven für das M- und SL-System?
Peter Karbe: Die Entwicklung der APO Summicron Reihe erstreckt sich über die letzten drei Jahrzehnte. Das erste APO Objektiv bei Leica war das APO Summicron-R 180 aus dem Jahr 1996. Danach folgten das APO Summicron-M 90 ASPH. (1998), das APO Summicron-M 75 ASPH., das APO Summicron-M 50 ASPH. und zuletzt das APO Summicron-M 35 ASPH. Mit jedem Objektiv wurde die Leistung gesteigert.
Das Konzept der APO Summicron SL Linie ist dagegen in einem Guss entstanden. Wir haben im Vorfeld die Leistung aller Objektive definiert und die Lösung in einem Plattform-Konzept gesucht, wo einerseits die AF-Anforderungen an die Objektive berücksichtigt und andererseits die Leistungsparameter einheitlich auf ein neues, vorher nicht da gewesenes, hohes Niveau gehoben werden konnten.
ProfiFoto: Können Sie bitte kurz erläutern, wie die Zusammenarbeit mit Glas-Lieferanten funktioniert. Definieren Sie die Spezifikationen, oder werden diese pro-aktiv angeboten?
Peter Karbe: Die Zusammenarbeit mit Glaslieferanten ist heute ein durch langjährige Erfahrung eingespielter Prozess. Größere Herausforderungen in der Zusammenarbeit gab es in den Anfängen der APO Korrektur bei Foto-Objektiven. Dabei beziehen wir Gläser von allen wichtigen Anbietern. Die Zeiten, in denen Leica Sondergläser exklusiv nutzen konnte, sind aber lange vorbei.
ProfiFoto: Was war in den letzten Jahren der wichtigste Fortschritt bei Glas für den Objektivbau?
Peter Karbe: Die Verbesserung der Fertigungsprozesse, etwa bei der Linsenfertigung, Beschichtung und durch Lackierung ermöglichen uns heute, auch empfindliche Gläser einsetzen zu können. Außerdem führte die Steigerung der Genauigkeit in der Fertigung und bei der Montage der einzelnen Bestandteile des Objektivs dazu, höhere Leistung in kompakter Bauform realisieren zu können.
ProfiFoto: Am augenfälligsten ist die stark unterschiedliche Größe der Leica Objektive für das Vollformat im M und SL System. Wie ist diese zu begründen?
Peter Karbe: Bei M-Objektiven hat die Kompaktheit eine sehr hohe Priorität, schon allein, damit der M Sucher nicht verdeckt wird. Bei SL-Objektiven ist die Autofokus-Funktionalität ausschlaggebend für die Lösung. Leichte Fokusgruppen gewährleisten einen schnellen AF. Um diese einsetzen zu können und gleichzeitig eine hohe Abbildungsleistung zu erreichen, sind mehr Linsengruppen notwendig, was größere Objektive erforderlich macht.
ProfiFoto: Vor allem im M-System gibt es zahlreiche Objektive mit identischer oder nahezu identischer Brennweite. Warum?
Peter Karbe: Nicht jeder Fotograf benötigt ein Objektiv mit hoher Lichtstärke. Daher unterscheiden sich die Objektive in der Lichtstärke. Aber alle Leica Objektive sind so optimiert, dass sie bei voller Öffnung ohne Einschränkungen genutzt werden können.
ProfiFoto: Können Sie bitte die unterschiedlichen Baureihen wie Elmar, Summilux, Summicron und Summarit erklären?
Peter Karbe: Die Objektivnamen leiten sich aus den Lichtstärken ab. Je lichtstärker ein Objektiv, desto mehr Aufwand ist notwendig, damit es bei voller Öffnung ohne Kompromisse genutzt werden kann.
ProfiFoto: Was im Line-up fehlt, sind preiswertere M-Objektive, so wie sie für das SL-System angeboten werden. Gibt es hier Nachholbedarf?
Wir hatten mit unseren Summarit-Objektiven eine preiswerte M-Linie, die aber eingestellt wurde, da die Nachfrage nicht ausreichend war.
Ich predige zwar immer, dass es bei Leica Objektiven nicht erforderlich ist, abzublenden, um die Leistung zu steigern. Wer keine hohe Lichtstärke braucht, kann genauso gut ein lichtschwächeres Objektiv nutzen, das in der Abbildungsleistung vergleichbar ist. Andererseits ermöglicht die Bildwirkung lichtstarker Objektive bei Offenblende Bildergebnisse , die früher so nicht darstellbar waren.
Generell gibt es keine schlechten Objektive, sondern nur solche mit unterschiedlichem Charakter bzw. unterschiedlichen Abbildungsleistung. Fotos, die früher aufgenommen wurden, sind ja nicht schlecht, nur weil seinerzeit die aktuellen Objektive nicht zur Verfügung standen. Qualitätsschwankungen durch Fertigungsstreuung sind hierbei nicht berücksichtigt.
ProfiFoto: Die Noctilux Objektive haben aufgrund ihrer hohen Lichtstärke eine Sonderstellung im System, das 50 mm ist jedoch schon rund zehn Jahre auf dem Markt. Braucht es eine Neuauflage?
Peter Karbe: Die Frage stellt sich generell für alle Objektive, die länger auf dem Markt sind. Sie lässt sich nicht pauschal beantworten, da jede Neuauflage von verschiedenen Faktoren abhängig ist.
Aber auch bei einer Neuauflage ließe sich die Leistungsfähigkeit des aktuellen Noctilux kaum steigern. Hierfür müsste die Bauform größer werden, was systembedingt nicht gewollt sein kann.
ProfiFoto: Als Optikdesigner, der nach Perfektion strebt: welche Rolle spielen Objektive wie das Thambar oder das klassische Summilux-M 1:1,4/35?
Peter Karbe: Beide Objektive haben einen speziellen Charakter, der sich durch die Bildfehler, die in diesen Systemen innewohnen, definiert und die dem Anwender ins Auge fallen. Auch ältere Leica Objektive haben einen spezifischen Look, für den sie geschätzt werden.
Das Thambar mag ich persönlich sehr. Es ist ein Objektiv, bei dem die sphärische Aberration bei voller Öffnung deutlich hervortritt. Dadurch wirken Aufnahmen mit diesem Objektiv sehr weichgezeichnet. Die Fotos haben die Anmutung eines Traumbildes, ähnlich wie beim Rodenstock Imagon. Das Summilux 35 (non ASPH.) hat ähnliche Eigenschaften, die sich aber nicht so deutlich zeigen. Scharfe Konturen wirken „abgerundet“. Beide Objektive haben ihre Berechtigung, sofern sie der Intention des Fotografen/Fotografin entsprechen.
ProfiFoto: Beim SL-System ist durch die L-Mount-Alliance ja bewusst die Nähe alternativer Anbieter gewählt worden. Wie beurteilen Sie deren Angebote und das aktuell wachsende Line-up an Fremdobjektiven für die M?
Peter Karbe: Fremdobjektive stellen eine Ergänzung und Bereicherung des Objektivportfolios des Anwenders dar und bieten noch mehr kreative Möglichkeiten. Allerdings, nur ein „Leica“ Objektiv steht für den echten Leica Look and Feel, den unsere Kunden so schätzen.
ProfiFoto: Welchen Einfluss nimmt Leica bei den so bezeichneten Objektiven von Panasonic für das Lumix MFT-System?
Peter Karbe: Die Kooperation mit Panasonic besteht schon zwei Jahrzehnte. Wir haben in dieser Zeit immer unseren Beitrag geleistet und Einfluss geltend machen können. Wir sind bei der Entwicklung dieser Objektive von Anfang an beteiligt und vereinbaren die Design-Ziele sowie die Prüf – und Abnahmebedingungen sowohl für die Prototypen als auch für die Serienfertigung. Wir überprüfen die Designvorschläge bezüglich dieser Targets und machen eventuell Änderungs- oder Verbesserungsvorschläge und prüfen die Prototypen und die Serienfertigung. Jeder Schritt ist mit einem „Okay“ oder „Nicht okay“ (Go oder No Go) verbunden.
ProfiFoto: Und welche Rolle spielen Sie bei der Entwicklung der Kameramodule der diversen Smartphones, die Leica Objektive für sich in Anspruch nehmen?
Peter Karbe: Hier gilt im Prinzip dasselbe, wie für die Zusammenarbeit mit Panasonic, nur kommt als zusätzliche Komponente die Integration der einzelnen Sensoren und die der Bildverarbeitung hinzu, die alle sinnvoll zusammenspielen müssen. Hier geht es also nicht nur um das Optikdesign, sondern unter anderem auch um Beratung bei der Verarbeitung der Bilddaten, damit das Ergebnis optimal ausfällt. Dabei spielt bei Smartphones Image Enhancement eine größere Rolle als bei Kameras, das sieht man den Bilddaten ja auch an, wobei deren Qualität erstaunlich gut ist, wenn man bedenkt, wie klein die Sensoren sind. Wir reden hier über 0,6 µm Pixelgröße, das ist schon Beugungs-begrenzt. Daher spielt unter anderem Pixel-Binning eine entscheidende Rolle.
ProfiFoto: Schärfe und Bokeh eines Objektivs stehen im Widerstreit. Wo ist für Sie die „goldende Mitte“, oder wie lösen Sie dieses Dilemma?
Peter Karbe: Das sehe ich anders – das „Bokeh“ wird in erster Linie durch die Blende und die Fertigungsqualität bestimmt. In beiden Punkten machen wir keine Kompromisse. Bei unseren Objektiven ist Offen- gleich Arbeitsblende. Die marginalen Verbesserungen durch Abblenden stehen in keinem Verhältnis zu dem Verlust an 3D Wirkung, der bei offener Blende entsteht.
ProfiFoto: Von Puristen ist Leica für den Ausbau von Computational-Funktionen kritisiert worden. Wie beurteilen Sie deren Nutzung? Als Pfusch, oder als sinnvolle Ergänzung der Möglichkeiten im Optikdesign?
Peter Karbe: Es gibt ein paar Fälle, wo die Bildfehlerkorrektur durch Software echte Vorteile liefert. Bei Verzeichnung, Vignettierung und chromatischer Vergrößerungsdifferenz ist der Einsatz sinnvoll – aber alles in einem vertretbaren Rahmen. Zuviel des Guten führt dazu, dass alles Gleich aussieht und es zum Malen nach Zahlen degenerieren kann.
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