Einmal mehr wagt sich das Museum im Lagerhaus*, St. Gallen, mit der Ausstellung „Lene Marie Fossen – Human“ vom 1. September 2022 bis 26. Februar 2023 an ein brisantes Thema. Anorexie hat in den vergangenen Coronajahren stark zugenommen. Obwohl hoch aktuell, ist das öffentliche Thematisieren dieser Krankheit jedoch ein Tabu.
Die Ausstellung zeigt erstmals die eindringlichen Selbstporträts der norwegischen Fotografin Lene Marie Fossen (1986–2019) außerhalb ihres Landes. Lene Marie Fossen lehnt den linearen Verlauf der Zeit ab, der sie in die Pubertät zwingt, und hört im Alter von zehn Jahren auf zu essen. Für den Rest ihres Lebens kämpft sie mit der Magersucht. Autodidaktisch findet sie zur Fotografie als ein Medium, mit dem sie die Zeit einzufrieren sucht. Sie entscheidet sich, offen mit ihrer Krankheit umzugehen und ihre Selbstporträts öffentlich zu zeigen.
2019 entsteht der Dokumentarfilm Self Portrait (Selvportrett, dt: Lene Marie oder das wahre Gesicht der Anorexie, Speranza film), ausgestrahlt auf ARTE 2020 und BR 2021 u.a., der verschiedene Preise erhalten hat und in Norwegen für eine Oskar-Nominierung vorgeschlagen wurde (Regie: Margreth Olin, Katja Høgset, Espen Wallin). Der Film macht das Werk von Lene Marie Fossen schlagartig bekannt. Doch ihre ergreifenden wie verstörenden Fotografien auszustellen, wagt kaum jemand.
Neben den Selbstporträts sind auch Porträtaufnahmen einer alten Frau und von 2015 auf Chios gestrandeten Flüchtlingskindern in die Ausstellung integriert. Sie betonen einmal mehr Lene Marie Fossens existentielle Fragen des Seins und menschlichen Leids.
Flucht, Krankheit, Leid, Fragen des Menschlichen, nach dem Sein und unserem Selbst-Verständnis sind in der gegenwärtigen internationalen Krisenzeit brennender denn je. Lene Marie Fossens Fotografien führen uns in ihrer grenzüberschreitenden Radikalität ganz nah an unsere existenzielle Verortung heran.
Die Ausstellung will Magersucht weder beschönigen noch stigmatisieren. Weder will sie der Krankheit eine Bühne geben noch soll sie abschrecken. Sie soll die Fotografin Lene Marie Fossen würdigen. Ihre Kunst und ihren Mut, ihr Leiden sichtbar zu machen.
Das Museum im Lagerhaus widmet sich der Kunst aus Grenzbereichen und setzt sich ein für ein grenzüberschreitendes Kunstverständnis und für Diversität im Kunstbetrieb. Künstlerische Positionen wie die Selbstporträts von Lene Marie Fossen sind hierbei von besonderer Bedeutung. Das Museum im Lagerhaus negiert Krankheit nicht, sondern lenkt die Wahrnehmung auf das kreative Potential, mit dem Menschen Lebens- und Krankheitserfahrungen im künstlerischen Schaffen transformieren. Letztlich steht nicht Krankheit im Zentrum, sondern es zählt das Werk, das aus der Dringlichkeit des Lebens entsteht.
*Museum im Lagerhaus, Davidstrasse 44, CH-9000 St. Gallen